Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Fabio Stassi: Ich töte, wen ich will

Podcast: https://www.nd-aktuell.de/podcasts/buecherberge

Rezension im „Freitag“: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/neuer-krimi-von-fabio-stassi-labyrinth-aus-buechern

Morde, Bücher und wuchernde Rätsel

Fabio Stasi hat einen Detektiv erfunden, der einem eigenartigen Beruf nachgeht: Bibliotherapeut

Irmtraud Gutschke

Ich wurde neugierig auf das Buch, will der Detektiv hier  einem eigenartigen Beruf nachgeht: Bibliotherapeut. Das wäre auch was für mich, dachte ich. Anderen Leuten Bücher empfehlen, die ihnen in ihrer persönlichen Schwierigkeiten helfen könnten. Am Schluss des Bandes gibt es sogar eine Liste solcher „literarischer Heilmittel“.

Vince Corso wollte ja eigentlich gar kein Detektiv sein, so wie er in seiner Gedankenwelt herumtaumelt, fehlt es ihm dazu an der nötigen Tatkraft. Am 29. Juni 2016, so beginnt seine Geschichte, hatte er von einem Schwarm Nachtfalter geträumt, der die Straßen Roms heimsuchte. Ein an sich unwichtiges Detail, doch blieb es ihm im Sinn, wenn er später die Ereignisse jenes Tages rekapitulierte. Zum Feinkostmarkt am Bahnhof Termini war er ohne seinen Hund gegangen. Dass er bei seiner Rückkehr eine graue Pfote hinter dem Sofa hervorschauen sah, machte die Verwüstung der Wohnung zweitrangig. Djangos Maul voller Speichel, der Bauch gebläht, Blut lief ihm aus der Nase. Vergiftet. Fast zwei Wochen lang würde Vince Corso Stunde um Stunde in der Tierarztpraxis verbringen, wo Django im künstlichen Koma lag. Die übrige Zeit wird er irritierende Dinge erleben. Zum Beispiel sieht er einen abgetrennten Kopf über die Straße rollen. Ein teuflischer Unfall mit einer Straßenbahn – da denke doch ich sofort an Bulgakows Roman „Meister und Margarita“.

Dies ist kein Krimi von der klassisch britischen Art und auch keiner von der US-amerikanischen „Hard boiled“-Sorte, sondern einer voller wuchernder Rätsel, an denen Fabio Stassi selbst seine Freude hatte. Er ist, wie man merkt, ein vielbelesener Mann, wobei ja gerade Viellesern  Einzelheiten oft aus dem Gedächtnis verlieren. Stassi aber lässt uns mit Vince Corso nicht nur in die quirlige Atmosphäre Roms eintauchen, sondern auch in das Gemüt eines Menschen, der detailversessen im Gelesenen lebt. Wie traumverloren in Gedanken und dann wieder hellwach für etwas, das andere übersehen – diese seltsam gespaltene Wahrnehmung kennt der Autor wohl selbst.

Vince Corso als „Bibliotherapeut“ hilft Menschen mit ihren Problemen, indem er jedem die passende Lektüre empfiehlt. Doch braucht er nicht auch selber Hilfe? Wieso schreibt er Briefe an seinen Vater, von dem er gar nichts weiß? Warum lässt er Frauen nur kurzzeitig in sein Leben? Und ist er womöglich gar in die Morde involviert, die in seiner Nähe geschahen? Was für ein Glück, dass der Commissario ihn beschatten lässt …

Auf dem Buchumschlag ist indes ein Blinder abgebildet. Und der Text beginnt mit einem „Epilog“: Am 16. September 1959 sehen wir einen Jungen in ein Buch vertieft – „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll  und Mr. Hyde“ von Robert Louis Stevenson, wie wir später erfahren. Ein Knarren stört ihn auf. Aus dem Wohnzimmer kommt es nicht, die Schlafzimmertür ist verschlossen. Später wird der zurückkehrende Vater den Jungen im Flur mit ausgestochenen Augen finden …

Was das mit Vince Corso zu tun hat, den wir ja minutiös bis zum 15. Juli 2016 begleiten? In der Tierarztpraxis hat ein Blinder ein Buch liegen lassen, und Corso läuft ihm hinterher. Mal scheint er den Mann im Straßengewirr entdeckt zu haben, dann wieder sieht er sich vielen Blinden gegenüber und gerät in die düsteren Gewölbe unter der Kirche Santa Maria Maggiore … Ein spannendes Rätselspiel, bei dem man sich bis fast zum Schluss  nicht vorstellen kann, wie der Autor es auflösen will. Dass Vince Corso seinen Hund zurückbekommt, wünscht man sich. „Dass die wahre Hauptfigur eines jeden Romans sein Leser ist“, stimmt es, was der Blinde sagt? Tatsächlich werden ja literarische Texte erst lebendig, wenn sie gelesen werden. Mehr noch: Sie werden lebendig auf unterschiedliche Weise, verändern sich gleichsam mit den  geistigen Welten ihrer Leserinnen und Leser. Können akzeptiert und abgelehnt werden, können bestätigen und widersprechen. Lesen bereichert in einer Weise, die die meisten kaum zu benennen vermögen.

Fabio Stassi: Ich töte wen ich will. Kriminalroman. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Edition CONVERSO, 304 S., geb., 20 €.

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