Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Fjodor Dostojewski: Der Doppelgänger

Ich: ein Anderer

Dostojewskis Roman „Der Doppelgänger“ in seiner Urfassung

Von Irmtraud Gutschke

Als Fjodor Dostojewski diesen Roman im Januar 1846 beendete, fast zeitgleich mit „Arme Leute“, der Begründung seines Ruhms, hatte er eine gänzlich andere Meinung von ihm als seine damaligen Kritiker. Die erwarteten von ihm ein realistisches, auch sozialkritisches Werk und begegneten hier in dem kleinen Beamten Goljadkin gleichsam einem kranken Geist, für den es im Ringen mit einem zweiten Ich letztlich keine Rettung gibt. In seinem Nachwort zum Roman führt der Übersetzer Alexander Nitzberg eine stolze Reihung berühmter Autoren der Romantik an, die sich ebenfalls mit dem Doppelgänger-Motiv befasst haben.

Aber der Rückgriff auf die Romantik wurde von Dostojewskis damaligen kritikern gerade missbilligt. Das Ausufernde seines Stils, die Wortwiederholungen, diese „Symphonie der Redundanz“, wie Nitzberg lobt –, so lange und heftig wurde es dem aufstrebenden Literaten angekreidet, bis dieser selbst Abstand zu seinem Werk gewann. 1866 veröffentlichte er eine neue Fassung, stark gekürzt, enträtselt. Nitzberg: „Die Repetition in den ausufernden Monologen zu mäßigen, bedeutet dem Roman den Pulsschlag zu nehmen, der ihn so lebendig macht.“ Aber die bisherigen sechs Übersetzungen des Romans ins Deutsche beruhten auf dem Text von 1866. Das „Der Doppelgänger“ jetzt in seiner Urfassung erschien, ist quasi eine Premiere.

Ein Psychodrama? Nabelschau eines Irren? Dass Herr Goljadkin an der bürokratischen Hierarchie in einem Maße leidet, dass er ein geheimes unterbewusstes Ich zu Hilfe ruft, könnten wir es nicht verstehen? Auch dass dieser junge, forsche Nebenbuhler für ihn eine Bedrohung wird, ist so phantastisch wie real. Ein Mensch, der sich in seiner Lebenswirklichkeit nicht bescheiden kann, der von den Ansprüchen an die eigene Person gehetzt wird – , Dostojewski war doch selbst so einer.

Wie er darunter litt, wie er sich selber geißelte, weil er nicht so sein konnte, wie er es von sich verlangte. Nicht so gütig, nicht so erfolgreich, zwar aus adliger Familie, aber ständig in prekärer Lage. Von Epilepsie geplagt, von Schulden geplagt und von seiner Spielsucht, die alles nur noch schlimmer machte. Dabei wußte er: Wie er sein wollte und wie nicht, das gehörte leider zusammen. Das Motiv des Doppelgängers wurde prägend für Dostojewskis Werk. Mit diesem grandiosen Roman hat es der Schriftsteller für sich entdeckt.

Fjodor Dostojewski: Der Doppelgänger. Die Abenteuer des Herrn Goljadkin. Die Urfassung in deutscher Erstübersetzung von Alexander Nitzberg. Galiani Berlin, 329 S., geb., 24 €.

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