Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

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Spätmoderne in der Krise

„Auf rutschenden Abhängen“

Wie Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa das widersprüchliche Heute deuten

Von Irmtraud Gutschke

Wenn dieses Buch in Fachkreisen gelesen wird, wo jeder Wissenschaftler sich sein eigenes Forschungs- und Bedeutungsfeld abgesteckt hat, sollte es auf entsprechender Höhe bestehen können. Dafür haben Andreas Reckwitz (Berlin) und Hartmut Rosa (Jena) alles aufgeboten, was wissenschaftliches Herangehen verlangt, somit Voraussetzung ist, in einen Diskurs innerhalb der Soziologie einzusteigen. Wer indes wie ich, dem universitären Betrieb fern und von Marx/Engels herkommend, gar nicht daran zweifelt, dass die Gesellschaftswissenschaften „an einer umfassenden Theorie der Moderne zu arbeiten“ haben, mag die beiden Autoren stellenweise allerdings wie durch offene Türen gehen sehen. Wobei einem klar ist,  dass so eine umfassende Theorie der „Spätmoderne“ (schon in diesem Titel steckt ja Sprengstoff) letztlich das etablierte Herrschaftssystem hinterfragt und mit Bedacht „verpackt“ sein muss.

Eine schwer durchschaubare Gegenwart zu durchschauen, dazu haben beide Autoren bereits Bedeutendes geleistet. Mit „Die Gesellschaft der Singularitäten“, „Das Ende der Illusionen“ und „das hybride Subjekt“ hat Andreas Reckwitz Systemveränderungen analysiert, wie sie sich seit den 1970er Jahren vollzogen haben. Hartmut Rosa hat den Zusammenhang von „Beschleunigung und  Entfremdung“ untersucht, die „Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung“ und die „Unverfügbarkeit“, während doch alles verfügbar scheint. Die Texte des einen kannte ich schon früher, die des anderen kommen mir hier nahe und überzeugen mich nicht weniger.

Der Sinn solcher Lektüre: Erscheinungen, die man wohl wahrgenommen, Zusammenhänge, die man durchaus erahnt hat, werden auf eine schlüssige Weise in Sprache gebracht und somit handhabbar. Irritierendes klärt sich, indem es Konturen bekommt. Andreas Reckwitz benennt die neue Sozialstruktur im Spätkapitalismus (er sagt lieber Spätmoderne dazu) und setzt stillschweigend voraus, dass es auch eine Oberschicht gibt, die von den Verwerfungen nicht betroffen ist. Dabei ist „der Aufstieg der neuen, akademisch gebildeten Mittelklasse, die von der historisch einmaligen Bildungsexpansion profitiert“, mit dem „Abstieg einer neuen Unterklasse“ verbunden – ein Effekt der Deindustrialisierung und des Bedeutungsgewinns der einfachen Dienstleistungen“…; zwischen beiden befindet sich gleichsam in einer Sandwich-Position… die traditionelle Mittelklasse“, die mit ihren Lebensvorstellungen nicht mehr tonangebend ist. Geltung beansprucht nunmehr „eine Kultur, die um die Ideale der subjektiven Selbstentfaltung, der Kreativität, der Authentizität und der erfüllten Emotionalität kreist. Sie ist zugleich an das Ideal der Attraktivität des individuellen Erfolgs im gesellschaftlichen Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Anerkennung gekoppelt.“

Dass diese „Singularitäten der Kultur“ in „einem Raum des Nichtrationalen“ siedeln, als „Faszinationsquellen des Sozialen“, ohne die die Moderne eine „glatte, gut geölte Vernunftmaschine“ wäre, ist eine kluge Feststellung. „In der Sphäre der Kultur gilt: Die einen gewinnen Identität, die anderen verlieren sie – oder fühlen sich durch die Identität der anderen bedroht.“ Wir befinden uns sozusagen in einer „Kultur- und Affektmaschine, in der verschiedene kulturelle und affektive Offerten – Geschichten, Bilder, Spiele – mit ihren Identifikationsangeboten um das Interesse des Users konkurrieren – und dieser selbst zu einem aktiven Produzenten solcher kultureller Offerten wird. Entsprechend löst sich die allgemeine Öffentlichkeit der Massenmedien auf in die personalisierten Medienwelten des einzelnen Nutzers einerseits, in die digitalen, kollektiv-singulären Communities der Gleichgesinnten andererseits.“

Wichtig ist bei Reckwitz auch der Begriff der „Hyperkultur“, die „auf einer permanenten Grenzüberschreitung  zwischen dem Kulturellen und dem Nichtkulturellen“  beruht, „zwischen dem Wertvollen und dem bloß Profanen“… Die Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur wird hier ebenso mühelos überschritten wie jene zwischen dem Zeitgenössischen und Historischen sowie die zwischen den Nationalkulturen.“ Dass auf der anderen Seite ein neuer Kulturessenzialismus steht, ist nur logisch: Individualität versus Gruppenidentität. „Anerkennungskämpfe, in denen soziale Gruppen eine Anerkennung als Opfer suchen, scheinen für diese Phase in der Geschichte der Moderne ebenso typisch wie ein Verlust politischer Utopien. Die offensive Haltung des Fortschritts wird offenbar abgelöst von einer defensiven Orientierung an Prävention, Resilienz und Verlustminimierung.“

Geht da etwas zu Ende? Aber was für ein Neues soll daraus erwachsen? Dem hält Reckwitz entgegen, dass die Moderne „prinzipiell eine Gesellschaft in der Dauerrevision und daher auch in der Dauerkrise“ sei, dass es ihr „Existenzmodus“ ist, was so klingt, als ob man mit den krisenhaften Zuständen Frieden schließen müsste. Wobei er es für möglich hält, dass die „Spätmoderne eine längere Stagnation erlebt oder aber sich bereits in eine neue Form der Moderne, eine Art ‚Postspätmoderne‘ umwälzt.“ Auch wenn das erst einmal nebulös klingt, es wird interessant sein, diesen Prozess zu beobachten. Wird es Politik gelingen, stärker auf Ausgleich zu setzen?

In einem sozialen „Regime des Neuen“, wie Reckwitz es nennt, gibt es Gewinner und Verlierer. „Diese Verlustdynamik wird in modernisierungstheoretisch ausgerichteten Gesellschaftstheorien und im typisch modernen Progressismus systematisch ausgeblendet.“ Dabei wird die moderne Gesellschaft „von Verlustängsten, Verlustwut und Verlusttraumen“ nicht nur heimgesucht, sondern auch „angetrieben“.

Wie Beschleunigung als „Signum der Moderne“ auch im Individuellen „Steigerungsimperative“ erzeugt, bringt Hartmut Rosa in ein einprägsames Bild: Wir stehen gleichsam „auf rutschenden Abhängen“. Oder anders gesagt: Wie „auf Rolltreppen nach unten … müssen die Subjekte … stetig – und immer schneller –  nach oben laufen beziehungsweise andere am Vorbeiziehen hindern“. Ein permanentes Gefühl der Unsicherheit, weil alles sich so schnell ändern kann, wird begleitet von der Furcht, „in der dynamisierten Sozialordnung zurückzufallen“.

Dass da im Modus der Beschleunigung verschiedene Geschwindigkeiten zusammenpassen betrifft aber auch die wirtschaftliche und die politische Entwicklung. Die Demokratie ist nun mall ein zeitintensiver Prozess und kann entsprechend als „Bremser und Hindernis“ wahrgenommen werden. Dass die Beschleunigung verheerende ökologische Folgen hat und viele Menschen in eine Psychokrise führt, ist unbestritten.

Alle „Versuche, die technische und soziale Kontrolle und Verfügungsmacht über die Welt auszudehnen“, haben in der Spätmoderne in „monströser Ohnmacht“ eine Kehrseite. Verheißung und Realität fallen auseinander. „Das Versprechen auf eine verfügbar gemachte, entgegenkommende, pazifizierte Welt“ verblasst. Selbst wo die Welt verfügbar ist, verliert sie ihre Attraktivität, wenn das Begehren erlischt.

„Die moderne Gesellschaft versucht sich unablässig als Konsumentenhimmel zu konstituieren.“ Die „Produzentenhölle“ liegt im Dunkeln. Hier operiert Hartmut Rosa zu Recht mit dem Begriff der Entfremdung und stellt sich sogar die Frage, wie diese überwunden werden kann. Zum Beispiel könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen das Gefühl der Unsicherheit mindern, ja vielleicht sogar auf eine Existenzform des „Genug“ orientieren. Das kann indes schwerlich im Profitinteresse des Kapitals sein, überlege ich, momentan. Je weiter die Digitalisierung vorankommt, könnte es allerdings unumgänglich werden, „freigesetzte“ Arbeitskräfte auf einem niedrigen Niveau ruhigzustellen. Wie dies in einer gespaltenen und zugleich globalisierten Welt national überhaupt möglich ist, bleibt eine offene Frage. Hartmut Rosa wird sie sich wohl gestellt haben, lässt sie aber außen vor. Aber im Unterschied zu Andreas Reckwitz – anhand der beiden Zitate auf dem Buchumschlag wird das schon deutlich – hält er generell „utopische Horizonte“ in der Gesellschaftstheorie für nötig. Die skizziert er auch, verbunden mit den Begriffen der Entschleunigung und der Resonanz. Aber wie Reckwitz die Existenz der Oberschicht kritiklos voraussetzt, so kann auch Rosa sich nicht zu einer deutlichen Kritik an den Herrschaftsverhältnissen aufschwingen. Weil niemand momentan sagen kann, wie eine Veränderung möglich wäre und welche Folgen sie hätte. Und weil eine solche Forderung den Rahmen der derzeitigen Gesellschaftstheorie sprengen würde, mit womöglich entsprechenden persönlichen Folgen.

Weitergehendes zu formulieren, fällt dann in den Bereich der Publizistik, der mit diesem Buch allerdings ein sehr gutes Arbeitsmaterial an die Hand gegeben ist.

Andreas Reckwitz/ Hartmut Rosa: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? Suhrkamp Verlag, 310 S., geb., 28 €.

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