Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Gergard Sawatzky: Wir selbst

Die Ermächtigung und ihr Ende

Eine faszinierende Entdeckung: Der große Gesellschaftsroman „Wir selbst“ von Gerhard Sawatzky Von Irmtraud Gutschke

„Ein einzigartiger zeitgeschichtlicher Fund“ – damit hat der Verlag Galiani Berlin wohl recht. „Wir selbst“ von Gerhard Sawatzky ist ein „großer Gesellschaftsroman“, allerdings nicht allein „über die Russlanddeutschen“. Zusammen mit dem Schicksal seines Autors greift dieses gewichtige Buch hinein in die widerspruchsvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts, lässt uns noch einmal durchdenken, was wir vielleicht längst glaubten begriffen zu haben, und bietet uns, insbesondere durch sein ungewöhnlich ausführliches Nachwort, eine Menge neuer Fakten und Erkenntnisse an. Wer solches sucht, möge beherzt zu dem dicken Brand greifen, auch wenn er mit über einem Kilo schwer in der Hand liegt. Das Lesen bis Seite 893 wird leicht sein und spannend. Und die folgenden 200 Seiten des Herausgebers Carsten Gansel öffnen eine zusätzliche Perspektive, die dem Schriftsteller nicht mehr vergönnt war.

Gerhard Sawatzky, geboren 1901 in Blumenfeld, Ukraine, gestorben 1941 im Lager Solikamsk in der Region Perm, wurde nach einem Studium in Leningrad zunächst Lehrer im Wolgagebiet, betätigte sich bald auch als Journalist, schrieb Gedichte und Erzählungen und wurde 1938 Vorsitzender des Verbandes deutscher Schriftsteller in dieser deutschen Autonomen Republik, die von 1924 bis 1941 innerhalb der RSFSR bestand. Ob seine Verhaftung Ende 1938 mit dieser Funktion in Beziehung stand, ob es vielleicht Neider gab, Denunziationen – schon vorher waren ja zahlreiche deutsche Exilautoren von den stalinistischen „Säuberungen“ betroffen gewesen – warum genau er ins Lage kam, bleibt noch im Dunkeln.

Carsten Gansel zitiert den russlanddeutschen Schriftsteller Johann Warkentin, dass Sawatzky beim Schreiben seines 1937 vollendeten Romans die Todesangst „im Nacken saß“ und er mit „jeder Zeile versuchte, gegen eben jenes Grauen anzuschreiben“. Eine gewisse Vorsicht gegenüber der Zensur vorausgesetzt, so scheint es mir beim Lesen, muss seine Widerstandsleistung indes noch eine andere gewesen sein: Er mobilisierte ein Ideal sozialistischen Zusammenlebens, das jeder Leser mit der Wirklichkeit vergleichen konnte. Dabei war es kein luftleeres Ideal. „Gerhard Sawatzky kann bei seinem umfassenden Gesellschaftsportrait der Wolgarepublik das nutzen, was man ‚Primärerfahrung‘ nennt“, schreibt Carsten Gansel und vergleicht den Roman mit Scholochows „Neuland unterm Pflug“ (1932). Doch anders als dieser wurde „Wir selbst“ verboten; die schon gedruckte erste Auflage wurde vernichtet. Dass es Sawatzkys Witwe gelang, vor ihrer Deportation nach Sibirien das Urmanuskript zu retten, davon hat viele Jahrzehnte lang niemand gewusst.

Carsten Gansel, der in russischen Archiven bereits Heinrich Gerlachs Romane „Durchbruch bei Stalingrad“ und „Odyssee in Rot“ entdeckte, begab sich auf eine schwierige Spurensuche, bei der er zugleich die ihm vorher nur wenig bekannte Geschichte der Russlanddeutschen recherchierte.

Aber ist dies überhaupt ein russlanddeutscher Roman? Das Buch wurde auf Deutsch geschrieben, handelt in der Wolgarepublik, zu der es im Buch eine Karte gibt. Zugleich aber ist es ein Zeugnis sowjetischen Aufbruchs, was einem nach dem Scheitern des sozialistischen Experiments umso deutlicher zu Bewusstsein kommt. Wenn in einer Rezension der „Welt“ eine „penetrante ideologische Schlagseite“ moniert wird, zeigt sich darin eher eine ideologische Vorgefasstheit von der Gegenwart her, statt das Bemühen, den Geist jener Zeit wahrzunehmen, die Begeisterung zu akzeptieren, mit der die Protagonisten des Romans ihr Leben gestalten. Mag man von heutigem Literaturgeschmack her diese oder jene Mängel finden, das Beeindruckende ist doch, wie dieser Text Geschichte verständlich macht. Dabei geht es eben nicht um Russen und Deutsche, sondern um Arm und Reich auf engstem Raum. Zu Beginn sehen wir, sogar mit einigem Mitgefühl, wie sich der Fabrikbesitzer Benkler zusammen mit seiner kranken Schwiegertochter und seiner kleinen Enkelin ins Ausland abzusetzen trachtet. Weil er erst sein schweres Gepäck zum Zug bringt, der sich sofort in Bewegung setzt, bleibt die Familie zurück. Die Frau stirbt. Rotarmisten bringen das Kind zu einer Bauersfrau. Erst am Schluss wird sich Ellys Herkunft offenbaren und diese Spannungslinie immer deutlicher werden.

Doch erst einmal ist alles überdeckt vom Hunger, der die Deutschen in diesem Dorf voneinander trennt. Nach Krieg und Bürgerkrieg haben die einen genug zu essen und die anderen nicht. Der Herr und der Knecht. Die Gier und die Not. Die Willkür und das Aufbegehren dagegen. Die Leute brauchen keine Weisung zur „Entkulakisierung“ der zwei reichsten Bauern zu ihrem Nutzen. Und weil manche nur ein Pferde haben oder keins, tun sie sich zum Pflügen zusammen. Wobei die Schwierigkeiten deutlich werden, weil selbst der kleinste Privatbesitz wärmt und Vergesellschaftung Angst macht. „Das Land muss allen gehören, wie die Luft, denn ohne Land kann niemand auskommen, kein Mensch“, sagt Kempel, der einstige Rotarmist.

In der nahegelegenen Stadt ist es die Initiative einiger Frauen, die im Fabrikgebäude Benklers eine leistungsfähigen Strickerei einrichten. „Wir selbst“ – im Titel steckt eine Ermächtigung. Menschen werden sich ihrer Möglichkeiten bewusst, schöpfen Hoffnungen, die sie früher nicht hegen konnten. Dafür sind sie bereit, Leistungen zu erbringen. „Alle werden arbeiten, gemeinsam, und alle werden von allem genug haben.“ Was der Schlosser Hart da sagt, eröffnet einstigen Hungerleidern eine leuchtende Perspektive. Junge Leute können lernen, studieren, werden bald eine neue Elite bilden. Dass irgendwann eine Abgehobenheit entstehen könnte, ist ihnen noch nicht vor Augen.

Wie anders die heutigen Anspruchshaltungen und Bedürfnisse sind, man denkt es beim Lesen natürlich immer mit. Komsomolversammlungen, Verpflichtungen, die Normen zu überbieten, Leistungswille, Disziplin und der Glockenschlag des Kreml aus dem Radio vom Kirchendach – natürlich ist der Roman auch durchdrungen von einem Mythos, der zu heutigen Zukunftswünschen nicht mehr passen will. Aber diese Menschen hatten eine Utopie. Wenn sie auch verdunkelt wurde und in die Ferne rückte, sie schauten mit einer Zuversicht in die Zukunft, die derzeit völlig versandet scheint.

Aber ein wenig Sand ist bereits im Getriebe. Schüsse fallen, ein Brand wird verhindert. Und da wird auch jemand abgeholt im Morgengrauen. Was der Autor (mit uns zusammen) auch völlig richtig findet, denn es war ein skrupelloser Kerl, ein Feind der neuen Ordnung. Dass Sawatzky auch selbst einmal so in ein Auto steigen würde, wusste er nicht. Auch die Auflösung der Wolgarepublik und die Deportation ihrer Bewohner nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die UdSSR vier Jahre später sah er nicht voraus. Und unsereins zerbricht sich den Kopf darüber, wie ein durch und durch sowjetischer Roman verboten werden konnte.

Wobei man wieder bei den Russlanddeutschen und den Erklärungen von Carsten Gansel ist.

Das „Berufungsmanifest“ von Zar Peter I. (1702) für deutsche Gelehrte und Spezialisten und die Einladung von Zarin Katharina II. (1763) an deutsche Siedler führten dazu,

dass nicht nur eine Reihe von Gebieten des russischen Reiches von Deutschen (unter Vorzugsbedingungen) besiedelt wurden, sondern einige von ihnen auch in hervorgehobene Positionen kamen. Ende des 19. Jahrhunderts seien etwa 40 % aller höheren Befehlsposten in der Armee, 62% der Stellen im Ministerium für Post und Verkehr, 57% der Stellen im Außenministerium und 46% der Stellen im Kriegsministerium in deutschen Händen gewesen, heißt es. Welches Konfliktfeld sich da auftat, massiv verstärkt dann durch den Ersten Weltkrieg lässt sich denken. Aus dem Roman, der in ganz andere Konstellationen führt, spricht ein Selbstbewusstsein, das den Herren in Moskau auch verdächtig erscheinen konnte. Mir fällt dazu eine Szene aus Gusel Jachinas großartigem Roman „Wolgakinder“ ein. Stalin gerät in die deutsche Republik und kann sich über den Fleiß und die Sauberkeit dort nicht freuen, auch wenn man ihn voll Begeisterung empfängt. Diese Leute entziehen sich seiner Herrschaft. Und obwohl es Gerhard Sawatzky nicht beabsichtigte, sogar auch mal die Namen Lenin und Stalin fallen lässt, steckt in „Wir selbst“ ein Selbstbewusstsein, dass manch einen in Moskau vielleicht befremden konnte, weil tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen sich hier aus persönlichem Antrieb vollziehen und nicht durch Weisungen von oben. Als ob das Ideal des neuen Menschen unter Deutschen geboren worden wäre.

Gerhard Sawatzky: Wir selbst. Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Carsten Gansel. Galiani Berlin. 1088 S., geb., 36 €.

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