Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Hartmut Lange: Der etwa vierzigjährige Mann

Kein Ort, nirgends

Irmtraud Gutschke

„Der etwa vierzigjährige Mann“ begibt sich auf eine Zeitreise. Sei es mit einer „Carruca“, die ihm immer wieder wie durch ein Wunder zur Verfügung steht, entflieht er gegenwärtiger Ödnis und ist auf einmal in der Via Appia in Rom. Im „Forum Romanum“ sieht er halbnackte Männer mit Löwen und Tigern kämpfen. Am Tiber-Ufer möchte er verweilen, doch da entdeckt er im Wasser mehrere Leichen. Die Kutsche bringt ihn in die Villa des „überaus berühmten Lucius Annaeus Seneca“, der immer noch daran glauben möchte, „dass die Menschlichkeit mächtiger ist als das Schicksal“. Auch wenn Kaiser Nero, dessen Erzieher er ja war, ihn zur Selbsttötung verurteilt hat, die er nun unverzüglich vollziehen will.

Die nächste Etappe ist Florenz, wo er dabei ist, als ein Aufstand gegen die Familie Medici blutig niedergeschlagen wird. In Goethes Weimar erlebt er die Hinrichtung von Anna Catharina Höhn als Kindsmörderin und in Paris das Funktionieren der angeblich so humanen Guillotine. Auf „der Suche nach der Schönheit“ hat er immer wieder Schreckliches gefunden und sucht nun bei dem Maler Botticelli Rat. Der aber hat Angst vor einer „tödlichen Ideologie in der Bevölkerung“. Man beginne, „Skulpturen von ihrem Sockel zu stoßen, Bilder und Bücher werden verbrannt … Kunst, das müssen Sie wissen, ist immer in Gefahr.“

Hartmut Lange, Autor von über vierzig Büchern, ist keine vierzig mehr, sondern veröffentlichte diesen Erzählungsband mit 88. „Drei Texte sind hier versammelt und gleichsam drei Bewegungen, die um eine zentrale Frage kreisen: Gibt es Wege, der Absurdität des Lebens zu entfliehen?“ So heißt es im Klappentext des Diogenes Verlags. Melancholie hat diesen Schriftsteller ja eigentlich schon immer begleitet und dazu ein Gespür für Transzendenz. Auf eine sehr subtile Weise verdichtet er hier heutige Ängste, reagiert er auf jene allgemeine Verunsicherung, die gleichzeitig aufmüpfig zornig macht und lähmt. Wie er das unterschwellig spürbar werden lässt, an Aktuelles denken lässt, ohne es explizit zu benennen, ist ein Kunststück, wie es eigentlich zu erwarten war, wenn man seine bisherigen Werke kennt, und das dennoch immer wieder erstaunt.

Ja, wie kann man den nun den Bedrückungen entfliehen? Indem man sich ein paar schöne Pistolen kauft? Das jedenfalls tut Herr Ordinow aus Petersburg, der „Auf der Durchreise“ mit dem Ich-Erzähler über den Sinn des Lebens im Gespräch ist. „Es ist tautologisch, sich das Leben zu nehmen, wenn man sowieso sterben muss“, bekommt er zu hören. Oder sollte man sich ein Schutzhaut zulegen wie Frau von Bebenburg aus „Die Unberührbare“? Der an ein Theaterfragment erinnernde Text (nach einem Motiv von Arthur Schnitzler) beginnt im Berliner Grunewald – an einem Oktobertag vor über hundert Jahren, als es eigentlich schon verboten war, sich zu duellieren. Aber es geschieht, und der Tote ist  nicht der junge Leutnant von Sawatzky, der es wagte, Frau von Bebenburg „unehrenhafte Absichten“ nachzusagen. Es ist ihr Mann, der meinte, sie verteidigen zu müssen, obgleich er, wie wir erfahren, keinerlei Absichten ihr gegenüber hat.

Wie die Todesnachricht überbringen? Der junge Herr von Sedlitz soll es tun – und scheitert in mehrfacher Hinsicht. Da ist Hartmut Lange ein Kabinettstück gelungen, unglaublich witzig – und letztlich dermaßen aktuell. Kein Ort, nirgends für ein ruhiges, schönes Leben, kann man mit Christa Wolf sagen. Doch das muss man für sich nicht tragisch enden lassen. Am einfachsten lässt sich auf das Beängstigende mit Realitätsverleugnung reagieren. Was bei der adligen Dame schon beinahe krank wirkt, viele tun es auf diese oder jene Weise.

Hartmut Lange: Der etwa vierzigjährige Mann. Diogenes Verlag, 114 S., geb., 24 €.

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