Wie ein politisches System zerbricht
Irmtraud Gutschke
Herauf- und heruntergebetet habe ich im Geschichtsunterricht die Ursachen und den Verlauf der Oktoberrevolution. Als geradezu gesetzmäßig sollte sie erscheinen, wie vom Himmel entsandt. Gesetzmäßig wie der Staat, in dem ich lebte, und dessen Gesellschaftssystem, welche eine menschheitliche Perspektive haben sollte. Anders als der russische Zar lebten die Regierenden in der DDR dennoch ständig im Bewusstsein der Gefährdung ihrer Macht. Von außen wie von innen. Dass die Entscheidungen von Nikolai II. nach Baberowskis Auffassung 1917 nicht alternativlos waren, kann man von heute aus leicht sagen. Der Zar glaubt seinem Innenminister, dass alles unter Kontrolle zu bringen sein, und lässt schießen. Er selbst aber bringt sich mit seiner Familie in Sicherheit. Und sieht sich schließlich zum Abdanken gezwungen. Was hätte er ausrichten können, wäre er in seinem Palast geblieben?
Jörg Baberowski, Professor für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität Berlin, präsentiert keine einfache Lösung, die das russische Reich gerettet hätte. Vielmehr erzählt er von diesem Jahr 1917 so bildhaft und mit so vielen Einzelheiten, das man gleichsam einem Film beizuwohnen meint. Die einzelnen historischen Persönlichkeiten in ihrem trachten und Handeln: Wie genau hat er recherchiert, um sie in Nahaufnahme zeigen zu können! Subjektive Fehler in einer objektiv schwierigen Situation, denn Russland befand sich ja im Krieg, den die Bevölkerung nicht wollte. Realitätsverleugnung und Zerstrittenheit in den Führungsebenen – ist dies ein Lehrstück, wie politische Systeme untergehen? Unwillkürlich denkt man auch an das Ende der DDR. Allerdings wurde dies viel mehr als heute zugegeben von außen herbeigeführt. Gorbatschow hat die DDR aufgegeben und ließ seine Truppen in den Kasernen.
Dass Nikolai II. nicht führungsstark genug war, ist das der alleinige Grund für sein Scheitern? Dass der feudale Absolutismus sich überlebt hatte, gut, aber war ihm mit der Liberalisierung der Verhältnisse vielleicht schon der Todesstoß versetzt? Warum nicht erst der Übergang zu einer bürgerlichen Ordnung? Weil Lenin allzu ehrgeizig und eben führungsstark war? Hätte ich an seiner Stelle auch den Befehl zur Hinrichtung der Zarenfamilie gegeben?
Ich war nicht an seiner Stelle, also kann ich mir Mitgefühl erlauben. „Ein furchtbares Blutbad, dessen Spuren sofort beseitigt werden“ – so endet das Buch. Dass Nikolai nie „Selbstherrscher“ war, sondern „nur eine Figur auf dem Schachbrett der Macht“, ist es das, was der Autor uns zu bedenken aufgibt? Ja, wahrscheinlich braucht dieses riesige Land wirklich Machtmenschen, um es zu regieren. Als Doktorand hat der Autor 1990 in Moskau erlebt, wie die Sowjetunion zusammenbrach. Und das hat er dabei gelernt: Menschen haben gute Gründe, manches anders zu machen, als wir es sehen.
Der Lauf der Geschichte: Der Autor hat Recht, ihn als ein Gemenge von objektiven Gegebenheiten und subjektivem Denken und Handeln zu betrachten. Auch dass das Leben“ aus einer Reihe von Augenblicken, Momenten“ besteht, „in denen etwas geschieht, was wir nicht in unserer Hand haben“. Ja gewiss doch: „Es ist das Unvorhergesehene, das nicht Erwartbare, was allem Leben seine Spannung verleiht.“ Aber wie soll uns das trösten jetzt, angesichts drohender politische Turbulenzen? Mit der Hoffnung, dass alles auch irgendwie zum Guten ausgehen kann?
Jörg Baberowski: Die letzte Fahrt des Zaren. Als das alte Rußland unterging. C.H.Beck, 380 S., geb., 28 €.