Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Theodor Plievier: Stalingrad

Als der Krieg sich wendete

Der monumentale antimilitaristische Roman „Stalingrad“ von Theodor Plievier

Irmtraud Gutschke

„Die Panzer waren herangekommen. Die MG-Gruppe mit dem Koch wurde in den Schnee gewalzt. Die anderen sprangen auf und trachteten, laufend den Wall zu erreichen. Links eine Reihe Panzer und rechts eine Reihe Panzer, die MGs weggeworfen, geballte Ladungen in den Händen, so suchten sie, in der Annahme, dass die Panzer aufeinander nicht feuern würden, an die Panzerungetüme und in Deckung der Panzerwände zu gelangen: in der hoch aufgischtenden Schneewoge und neben den rollenden Ketten liefen sie her. Die Panzer richteten ihre MGs aber doch aufeinander, und wer von den Ostpreußen nicht in direktem Beschuss niedergestreckt wurde, fiel durch die von den Panzerplatten abprallenden Querschläger. So gingen in grauer Morgenstunde des 26. Januar 1943 die Letzten des MG-Bataillons 9 vor dem ‚Tatarenwall‘ zugrunde …“

Aber die Schlacht um Stalingrad war noch nicht zu Ende. Noch sollten die Soldaten zum Durchhalten verpflichtet sein. „Männer verwandeln sich in Leichen. Das ist nicht ungewöhnlich und ist nicht widernatürlich. Das kommt vor im Zuge politischer und kriegerischer Veränderungen … Aber deine im Stalingrader Steinbruch hingekegelten Männer – es ist doch so, dass selbst die Erde sich ihnen versagt und dass Elstern ihre Augen, ihre Herzen, ihre Gedärme wegtragen –, was zementieren sie, das ist die Frage.
Großdeutschland!
Großdeutschland an der Wolga –… ist das Land der Slawen etwa eine wohlfeile Menschenplantage … Ein sich über den Osten erstreckendes und bis zur Wolga ausspannendes Großdeutschland, niemand verlangt danach und niemand braucht es … selbst Deutschland braucht es nicht.“

Starke Worte, eindrückliche Szenen, während jetzt schon wieder von einem Krieg mit Russland gefaselt wird, als solle die Niederlage von einst wettgemacht werden. „Stalingrad“, der monumentale Roman von Theodor Plievier präsentiert in einer Neuausgabe des Aufbau Verlags die letztgültige Fassung des Autors, um uns daran zu erinnern, was Krieg bedeutet.

Carsten Gansel, der schon 2016 mit einer Neuausgabe von Heinrich Gerlachs Roman „Durchbruch bei Stalingrad“ international für Aufsehen sorgte, erhellt in seinem Nachwort Zusammenhänge, die bislang kaum bekannt gewesen sind. Warum wusste ich so wenig von diesem Autor? Weil er im Herbst 1947 von einer Vortragsreise durch Westdeutschland weggeblieben war. Wie oft in derlei Fällen wurde danach nicht mehr groß über ihn geredet. Und als mir Hermann Kant erzählte, er habe 1956 seine Diplomarbeit über „Stalingrad“ geschrieben, merkte ich nicht auf. Dass Kant 1984 mit einem lobenden Nachwort für eine späte Rehabilitierung des einstigen Bestsellers gesorgt hatte, erfahre ich jetzt erst von Carsten Gansel.

In ausführlichen Recherchen folgt er dem Lebensweg des Autors, der auf der Ausbürgerungsliste der Nazis gestanden, 1935 am Allunionskongress der Sowjetschriftsteller teilgenommen, eine Zeit lang in der Wolgadeutschen Republik gelebt und aus nächster Nähe erfahren hatte, was stalinistischer Terror bedeutete. Dem 70 Prozent der deutschen Exilanten zum Opfer fielen, wie ich hier lese. Auch dass die Zentrale der Komintern im baschkirischen Ufa  stationiert war, wo Plievier für sowjetische Rundfunksender arbeitete. Fälschlicherweise dachte ich ja immer, er sei Augenzeuge der Schlacht um Stalingrad gewesen. Den Roman lesend, hat man daran auch keine Zweifel, weil niemand sich so viele Einzelheiten ausdenken könnte. Aber er hat sehr genaue Erkundigungen eingezogen, mit vielen Augenzeugen gesprochen. „Ungeheuerlich die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, ungeheuerlich auch das Einfühlungsvermögen, die scharfe Intelligenz, die beim zweiten Wort schon das Wesentliche erfasste, die Zähigkeit und Genauigkeit seines Arbeitens.“

„Soldaten sind Mörder“, schrieb einst Kurt Tucholsky. Täter, ob freiwillig oder unter Zwang. Doch wie auch immer, und sei es durch Propaganda, sie werden auch zu Opfern einer Kriegsmaschinerie gemacht, zum Schlachtvieh für fremde Interessen. Minutiös beschreibt Theodor Plievier den Untergang einer ganzen Armee, der zur Wende im zweiten Weltkrieg führte – noch bevor die Alliierten eine zweite Front gegen Nazideutschland eröffneten. „Von nun an war es die Rote Armee, die die Oberhand hatte. Nach Beendigung der Kampfhandlungen am 2. Februar 1943 gerieten innerhalb weniger Tage 91 000 Mann in Kriegsgefangenschaft.“ Sterberate 90 Prozent – auch das wird hier nicht verschwiegen.

Plievier selbst stellt die haarsträubenden Vorgänge vor uns hin, ohne sie zu kommentieren. Ein großes, ein bleibendes Werk der Antikriegsliteratur. Denkwürdiges zum Tage.

Theodor Plievier: Stalingrad. Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Carsten Gansel. Aufbau Verlag, 624 S., geb., 30 €.

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