Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Im jahr des roten Affen

Die Weisheit der Nomaden

Dendev Terbishdagva: Ein Nomade zwischen Jurte und Brandenburger Tor

Von Irmtraud Gutschke

Ein mongolischer Autor, doch sein Buch brauchte nicht übersetzt zu werden. Dengev Terbishdagva spricht gut Deutsch. Nach seinem Schulabschluss in der Mongolei hat er Lebensmitteltechnologie an der Berliner Humboldt-Universität studiert, um später ein Fleischkombinat zu leiten, das in Ulaanbaatar mit DDR-Unterstützung aufgebaut worden war. Ab 1988 hat er in der DDR an der FDJ-Jugendhochschule am Bogensee gearbeitet und 1989 in Berlin den Mauerfall erlebt. 1990 begann er ein Marktwirtschaftsstudium und wurde mit seinem Import-Export-Geschäft einer der erfolgreichsten Privatunternehmer in der Mongolei. Lebendig, detailliert weiß er von seinen deutschen Erfahrungen zu erzählen. Allein schon wegen dieser Blicke von außen ist dieses Buch interessant, zumal Terbishdagva bis heute in hohen politischen Funktionen ist. Von 2000 bis 2002 war er Vizeminister, danach zwei Jahre lang Botschafter der Mongolei in Deutschland, später Vizepremierminister. So genau und offen wie er mit beträchtlichem Insiderwissen über die Vorgänge und Probleme in seinem Land Auskunft gibt, ist dieser Band eine Fundgrube für alle, die über die deutschen Belange hinausblicken wollen in Gegenden, von denen viele recht wenig wissen.

Was mich vor allem fasziniert ist das Bekenntnis zu einer Tradition, die vor Tausenden von Jahren auch die unsrige war. Auch unsere ganz fernen Ahnen sind wahrscheinlich Steppennomaden gewesen, wie heutige Untersuchungen belegen. Nur wissen wir kaum mehr etwas davon. Im Werk des kirgisischen Schriftstellers Tschingis Aitmatow, dem ich seit meiner Studienzeit nahe bin, habe ich Bezüge zur nomadischen Lebensweise gefunden. Aber bei ihm waren es doch eher Erinnerungen an eine Vergangenheit, die mit dem Leben seiner Sippe verbunden war, von der viele zu seinen Lebzeiten noch Analphabeten waren, mit den Legenden und Märchen, die er von der Großmutter hörte und die er später in seine Werke „einbaute“. Hätte er Terbishdagva kennen können, wären ihm womöglich noch viele Hintergründe seiner eigenen Kultur bewusst geworden. Das ist das Frappierende beim Lesen dieses Buches: Was man für Vergangenheit halten könnte, ist hier lebendige Gegenwart. Ist es nicht nur, sondern wird auch als solche wertgeschätzt. Und erklärt, weil der Autor weiß, dass wir es ohne diese Erklärungen nicht verstehen könnten.

Winzig war das Heilige Römische Reich gegenüber dem der Mongolen, das um 1294 von Korea bis Bulgarien, von Indien bis nach Sibirien reichte. Man sieht es auf einer Karte im Buch. Hatte ich von Dschingis Khan womöglich eine falsche Vorstellung? Der Autor dieses Buches will mich korrigieren. Schon damals ist eine eurasische Handelszone entstanden, die es auf andere Weise wieder geben könnte. Man staunt, was hier über Gesetzeswerke und Moralvorstellungen zu Dschingis Khans Zeiten zu lesen ist, über die Förderung von Kunst und Kultur. „Keinem anderen Land wurde seine Identität, Lebensart und -weise, Sprache und Schrift, Religion und Glaube oder Tradition sowie Mentalität willkürlich genommen.“ In diesem Zusammenhang fällt mir das kürzlich  bei Suhrkamp erschienene Werk „Alles unter dem Himmel“ des chinesischen Philosophen Zhao Tingyang ein, in dem von der Zhou-Dynastie (1046-256 v. Chr.) ausgehend eine solche friedlich integrierende Weltordnung beschrieben ist: „Tianxia“.  Tian – der Himmel. Terbishdagva hat für Himmel das Wort „Tenger“. Bei Aitmatow kommt „Tengri“ vor.  Den Herrn des blauen Himmels kennen alle alten Nomadenvölker ebenso wie die Mutter Erde.

Im Buch wird ein enges Naturverhältnis beschrieben, das ohne romantische Überhöhung aus dem Alltag kommt. Der Autor erklärt uns die Bräuche seiner Heimat, weil er weiß, dass wir sie nicht kennen und weil er sie für wichtig hält. Wie ein Neugeborenes empfangen wird, wie die Familienbeziehungen sind, wie Krankheiten auf schamanische Art geheilt werden, welche Rituale es dafür gibt – „in den Augen aufgeschlossener moderner Menschen klingt das alles nach Aberglauben. Aber wer weiß, vielleicht ist das nomadische Volk doch auf etwas Verborgenes gestoßen, denn viele auf diese Weise gewonnene Informationen stellten sich später als wahr heraus.“

Negation der Negation: Die alten Traditionen der Volkskultur, im Zuge der einstigen revolutionären Umgestaltungen als rückständig und hinderlich bekämpft, harren einer Wiederbelebung. Für den Autor steht es nicht im Gegensatz zu seinem in Deutschland erworbenen Wissen, „die Götter und Geister der Heimat, der Berge, des Wassers und des Himmels“ zu ehren. Ein Foto im Band zeigt ihn bei einer Zeremonie auf dem Berg Khan-Undur.

„Ich forsche an der mongolischen Geschichte der vergangenen 4000 bis 5000 Jahre, d.h. von der Bronzezeit bis in die Gegenwart“, bekennt er, wobei ihm durchaus klar ist, dass dies auch eine politische Dimension hat. Er hat die Erfahrung gemacht, dass eine starke Mongolei nicht vom IWF nach neoliberalem Muster geschaffen werden kann. Was die Einführung der Marktwirtschaft bedeutete – hier unter der Überschrift „Weideland der Korruption“ mit starken Worten beschrieben –, gilt ebenso für andere Länder des einstigen sowjetischen Imperiums. „Früher galt der Glaube dem blauen Himmel, heute dem Geld … Und nicht wenige Demonstranten, die 1990 für Freiheit und Gerechtigkeit auf die Straße gegangen sind, wurden im Laufe der Jahre selbst korrupt und Zerrbild ihrer einstigen Ideale.“

Da ist die Beschwörung der Tradition ein Versuch, wieder Werte zu verfestigen, die das Land zusammenhalten könnten: „Mensch sein … „gerecht, arbeitsam und verantwortungsbewusst“. Aber wie kommen Menschen aus einem entfremdeten, egoistischen Zustand wieder zu einer „Einheit von Leben und Sein“ in Gemeinschaft? Wie das Gewissen stärken, wenn Gewissenlosigkeit zu Reichtum führt?  Terbishdagva hat Recht, dass dies eines starken Staates bedarf, der Menschen wie ihn braucht: reinen Herzens und mit Visionen.

Dendev Terbishdagva: Im Jahr des roten Affen. Ein Nomade zwischen Jurte und Brandenburger Tor. Verlag Neues Leben, 479 S., geb., 24 €.

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