Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Alexander Osang: Fast hell

„Das Ungezügelte und Unberechenbare in uns“

Alexander Osang hat seinen Freund Uwe – und dabei sich selbst porträtiert

Von Irmtraud Gutschke

Ein Artikel zum 30. Jahrestag des Mauerfalls sollte es werden. Den SPIEGEL-Lesern „die rätselhaften Ostdeutschen“ zu erklären, war Alexander Osangs Absicht gewesen. „Der Redakteur wollte eigentlich ein Porträt über Angela Merkel, die Bundeskanzlerin, aber ich dachte gleich an Uwe.“ Weil der so gar keinem Klischee zu entsprechen schien. Sinologe, aber auch Englisch, Polnisch und Russisch sprechend, in New York und in Tel Aviv lebend, schwul, mit einem unglaublich großen Bekanntenkreis. Scheinbar pausenlos trinkt er Gin Tonic und raucht seine elektrische Zigarette, während er seine unglaublichen Geschichten erzählt. „Die spielten in Ludwigsfelde, Peking, Hongkong, Moskau, New York, Westberlin, Buenos Aires, Paris, Bulgarien, Sibirien, Lappland und einem Garten in Biesdorf, in Rotlichtvierteln, Hochsicherheitsgefängnissen, auf Teeauktionen, in Schwulenbars und im Kofferraum eines argentinischen Diplomaten in Ostberlin.“ Da schüttet der Autor gleich zu Beginn des Buches vor seinen Lesern einen Sack voller abenteuerlicher Verheißungen  aus. Aber auf Seite 177 stöhnt er schon selbst: „Ich bin müde. Es ist zu viel Stoff.“ Da bestellt Uwe sich gerade noch einen Wodka, um weiter zu erzählen. Und ausgerechnet in diesem Moment gibt es eine Offenbarung, die alles über den Haufen zu werfen scheint, was sich Alexander Osang bzw. der Ich-Erzähler bis dahin dachte.

Sind beide denn gleichzusetzen? Schon auf Seite 9 spricht Osang von sich als Kunstfigur, „die ich in meinen Kolumnen von mir angefertigt hatte, ein heimatloser Weltreisender, der über seine Möglichkeiten staunt“. Solche Klarsicht erfreut. Wer sagt uns da, ob Uwe nicht auch zum Teil fiktiv ist und die angeblich überraschende Pointe nicht von vornherein eingeplant? Man ist auf der Fähre „Princess Anastasia“, während der Weißen Nächte schon auf der Rückfahrt von St. Petersburg nach Helsinki. Die Russland-Reise hatte Uwe seiner Mutter zum achtzigsten Geburtstag geschenkt. Passt genau, weil sie zum Gespräch der beiden Männer einiges beitragen konnte an historischen Bezügen.

Der Artikel für den SPIEGEL wurde nicht gedruckt, aber es ist immerhin interessant zu lesen, wie es in dieser Redaktion zugeht mit fremdem Faktencheck und Überprüfung durch einen Justiziar. Wer dort schreibt, muss das mögen, aber es wird ja gut bezahlt. Alexander Osangs Entscheidung, statt eines Artikels einen Roman zu schreiben, hatte wohl auch mit Selbstbefragung zu tun. Die verborgen ist, schließlich weiß er genau um die Zusammenhänge, in denen er sich befindet, die er nicht abschütteln kann. Uwe war für ihn „ein Romanheld, der durch die Zeit und die Welt reiste“. Könnte er nicht, so unterschiedlich ihre konkreten Lebenswege waren, sein Alter ego sein? Wenn im Buch ostdeutsche Orte wie Lauchhammer oder Ludwigsfelde vorkommen, setzt Osang eilig Erklärungen hinzu, weil seine Leser sich womöglich nichts darunter vorstellen könnten. Interessant: Das Nahe ist fremder als das Ferne. „Wir gucken uns mal Santiago an“, nahmen er und seine Frau sich vor, als sie von New York wegzogen und es schwierig fanden, einfach so nach Berlin zurückzugehen. Aber weder Santiago noch Buenos Aires waren das Richtige. Da haben sie sich ein Haus in Jaffa gekauft. Inzwischen lebt die Familie wieder in Berlin.

Als ob die Selbstoffenbarungen seines Gegenüber den Ich-Erzähler anfeuern würden: Der Text wird gerade dann „heiß“, wenn Alexander Osang tiefer gräbt als er es in seinen Artikeln kann – unter die Oberfläche jener geübten Leichtigkeit, die Redaktionen und Leser ja eigentlich an ihm mögen. Wenn es weh tut. „Ich muss für immer im FDJ-Hemd im Religionsunterricht sitzen  und schwitzen, wie im Fegefeuer, denke ich.“ Von einer Stasi-Überprüfung bei der Berliner Zeitung erzählt er. Jenen wurde verziehen, die weinend auf die Knie gefallen waren. „Ich hatte in den letzten Jahren manchmal den Eindruck, dass neben Konkurrenzkampf, Geld, Karriere, erotischen Verwicklungen und Sympathien, Ostler im Westen oft dafür bestraft wurden, dass sie das neue System nicht anerkannten.“ Und eine Seite weiter: „Ich denke, der Westen fürchtet am meisten das Ungezügelte und Unberechenbare in uns.“ Hatte es ihn (so wie Uwe) deshalb ins Ausland gezogen, weil er mit der biederen bundesdeutschen Wirklichkeit nichts am Hut hatte? Das politische System, gibt er zu, war ihm egal. „Wonach ich mich sehnte, war Amerika. New York. Vielleicht London, Paris und Rom. Platten, Konzerte, Ozeane, Wüsten und Jeans.“ Eigentlich, denke ich, war es ewige Jugend.

Alexander Osang. Fast hell. Roman. Aufbau Verlag, 237 S., geb.,22 €.

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