„Aber Schriftsteller sind besondere Menschen“
Irmtraud Gutschke
Diese Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber, dieser Bekennermut und welche Sprachkraft, die feinsten Nuancen des eigenen Seelenlebens zu erfassen! Julia Schoch gehört in die Reihe jener Dichterinnen und Prosaautorinnen, die ihre Leserinnen (aber es müssen nicht nur Frauen sein) dem eigenen Verschwiegenen öffnen, ihnen dadurch Kraft und Mut geben. Mit ihrem Schreiben weiten solche Frauen – von Else Lasker-Schüler bis Annie Ernaux – das in der Öffentlichkeit Erlaubte. Oder, wie Eva Strittmatter es ausdrückte: „Der Dichter zeigt: Man kann sein eigenes Leben leben. Man kann seine eigenen Gedanken denken. Man kann seine eigenen Passionen haben.“
Julia Schoch erzählt von einer Liebesbegegnung, die sie eigentlich geheim halten wollte. Als junge ostdeutsche Stipendiatin eingeladen ins sogenannte Hudson Valley, eine Künstlerkolonie im Nordosten der USA, hat sie diesen Mann getroffen, der wie sie gerade sein erstes Buch veröffentlicht hatte, das allerdings schon ziemlich erfolgreich war. „Ich bin kein Spanier, ich bin Katalane“ – allein schon dieses lachende Selbstbewusstsein faszinierte sie. So wortgewandt, wie er war, bewunderte sie ihn. Und schon am dritten oder vierten Abend gab er ihr ein Zeichen, und sie folgte ihm in sein Zimmer …
„Es dauerte nicht sehr lange, dann war es vorbei. Wir lagen da, mit flimmernden Herzen und ein wenig außer Atem, bevor wir, jeder für sich, unsere Wege gingen.“ Liebe? Soll man die „wortlose, gierige Begegnung“ so nennen? Zu Hause wartete ihr Mann. Und sie war ja in dieser Künstlerkolonie, um zu schreiben. Dass es sie zu einer Geschichte zog, die sie mit elf oder zwölf selbst erlebt hatte, konnte durchaus etwas mit dem Katalanen zu tun haben: Sie öffnete sich dem Geheimen.
Im Wald nahe der Garnisonsstatt E. am Stettiner Haff war sie einem Soldaten begegnet, den man zum Pilzesammeln abkommandiert hatte. Fortan suchte sie ihn, wartete auf diese sonderbare Begegnung, auf ihre Gespräche. Er hatte Sartres Roman „Der Ekel“ bei sich, und sie erzählte ihm, was sie noch niemandem gesagt hatte: Dass sie einmal selber schreiben wolle. „Ich bin sicher, du schaffst es, bestimmt. Man muss wild sein. Wild nach einem wilden Traum …“
Das passte wohl zu der Affäre mit dem Katalanen, den sie bald aus den Augen verlor und doch nie vergaß. Aber war es nicht die Kehrseite dessen, was ihr schreibend möglich war? Der Liebesrausch als Kompensation für das In-Sich-Gekehrt sein, weil „das Leben einen Schritt zurückweicht, wenn das Schreiben anfängt. Oder vielmehr: dass es längst zurückgewichen sein muss, damit man in das Reich der Schrift hineingelangt.“
Romane über schwierige Beziehungen haben schon viele geschrieben, aber dieses Buch greift tiefer, in Bereiche der Selbsterkundung, die noch geheimer sind. „Die Autoren, die wir vergöttern, deren Bücher wir lieben, haben alle einen Preis bezahlt.“ Dass sie immer „irgendwo anders“ sind, hatte der Soldat gesagt, „zwischen Hier und Da. Aber niemals richtig hier und niemals richtig da.“ Und der Katalane hatte bekannt, ein „sehr unsichererer Mensch“ zu sein … „Aber Schriftsteller sind besondere Menschen.“ Von Geburt an oder per Entschluss?
Dass es ein Vorzug wäre, in verschiedene Charaktere, Arbeitsfelder und Zeiten zu schlüpfen, überlegt die Ich-Erzählerin. Aber „am Ende schlüpft man immer nur in sich selbst“. Und ist in sich eingeschlossen, abgesondert sogar von den Menschen, die man liebt, dem Ehemann, den Kindern. Es war einfach so, dass „die Worte, wenn man sie beim Schreiben hervorbringen will, woanders fehlen müssen“…
Und der Katalane? Er wurde mehr und mehr zum Gedankenwesen. Die Entfremdung: An ihm lag es nicht. Er sollte sie heilen. Die Lockung: „Solange ich schreibe, sterbe ich nicht.“ Der Preis dafür: „Ich habe mich bei lebendigem Leib in Schrift verwandelt.“
Julia Schoch: Wild nach einem wilden Traum. Biographie einer Frau. Roman. dtv, 174 S., geb., 23 €.