Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Michael Köhlmeier: das Philosophenschiff

„Die Macht zu töten“

Michael Köhlmeier macht auf unnachahmliche Weise ein Stück sowjetischer Geschichte lebendig

Irmtraud Gutschke

Jetzt, da sich vor allem Russischen ein dunkler Vorhang gesenkt hat, bin ich allein schon dankbar für derlei Aufmerksamkeit. Für den Dichter Alexander Blok, der in St. Petersburg erst die Oktoberrevolution besang und dann dort an Hunger starb, für den Religionsphilosophen Nikolai Berdjajew, für den anarchistischen Dichter, Boris Sawinkow, den Lyriker Wladislaw Chodassewitsch, die Schriftstellerin Nina Berberowa, den Dichter Leonid Kannegießer, der Mitglied einer antibolschewistischen Untergrundgruppe war – alles Namen, die hier aus der Vergessenheit geholt werden. Mit größter Selbstverständlichkeit, denn die Architektin Anouk Perelman-Jacob hat sie alle gekannt.

„Gesagt werden soll es. Und wenn es keiner glaubt, umso besser. Aber erzählt werden soll es.“ – Einen Schriftsteller hat sich die 100-Jährige ausgesucht, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Ausdrücklich einen „etwas windigen … Ich weiß, dass Sie Dinge erfinden und dann behaupten, sie seien wahr.“ Verstehen werden wir: Wahr ist hier alles in einem tieferen, einem höheren Sinn.

Es gab die „Philosophenschiffe“ zur Ausweisung Dichter und Denker aus der Sowjetunion. Es gab dieses Misstrauen gegen die Intellektuellen, in denen Lenin und seine Genossen „potenzielle Waffen in den Händen unserer Feinde vermuteten“. Dass das Bündnis mit der geistigen Elite des Landes nicht gelang, ja nicht einmal angestrebt wurde, war ein Geburtsfehler der UdSSR, der noch lange nachwirken sollte. Die Bolschewiki sahen sich als Avantgarde und lebten im Gefühl ständiger Bedrohung – was indes nicht nur ein Gefühl war. Bis zu ihrem Ende war die Sowjetunion den kapitalistischen Mächten ein Dorn im Auge. „Es war Lenins Idee, uns auszuweisen.“

Anouk war 14, als sie auf das Schiff kam, woraus sich eine spannende Handlung entwickelt. Denn während andere in ihren Kajüten verharren, macht sie sich selbstständig – und entdeckt auf dem Oberdeck jemanden, der dort nicht zu vermuten war: Lenin, der sich herablassend freundlich mit dem Mädchen unterhält. War es wirklich Fanny Kaplan gewesen, die das Attentat auf ihn verübt hatte? Oder war es eine Gruppe seiner Leute, die mit ihm nicht einverstanden waren? War es ein deutscher Agent, eine von Deutschland gesteuerte Verschwörung?

Soll der kranke Lenin uns leid tun? Anouk liest ihm aus Jack Londons „Ruf der Wildnis“ vor und lässt sich über die Macht belehren. „Es gibt nur eine Macht“, sagt er. „Die Macht zu töten. Die Macht, über ein Leben zu entscheiden. Ob ja oder nein. Über tausend Leben zu entscheiden …“ Und so endet das Buch, wie es enden muss. Überraschend oder gar nicht so sehr. Aber das soll hier nicht verraten werden.

Michael Köhlmeier: Das Philosophenschiff. Roman. 221 S., geb., 24 €.

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