Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Reinhard Stöckel: Bärensommer

„Fürchte dich nicht“, sagt der Bär

Reinhard Stöckel erzählt eine märchenhafte Geschichte aus der Lausitz

Irmtraud Gutschke

Ein Mann sitzt in einem Schuppen schweißüberströmt auf einer brüchigen Werkzeugkiste. Er ist erschöpft und durstig, und er hat Angst. Denn draußen hockt ein Bär. Versperrt ihm den Ausgang und spricht sogar zu ihm. Er möchte das Gewehr heben, das an der Wand lehnt, doch er wagt es nicht.

Geschieht das tatsächlich an der Grenze zwischen Brandenburg und Sachsen? Auf eine phantastische Wendung in dieser ansonsten realistisch erzählten Geschichte müsste eigentlich gefasst sein, wer das Schaffen von Reinhard Stöckel kennt. Und der wunderschön gestaltete Buchumschlag – eine nackte Frau, ein Bär und versteckt ein Mann mit Gewehr – hat ja schon neugierig gemacht.

Wir wären enttäuscht gewesen, wenn es nur bei dem Streit zwischen zwei Gemeinden geblieben wäre, den ein braver Beamter namens Jander im Auftrag des Potsdamer Ministeriums schlichten soll. Er verschiebt seinen Urlaub, was ihm seine Frau übelnehmen wird, fährt dorthin, wo der Braunkohlentagebau Spuren und Schmerzen hinterlassen hat und wo nun plötzliche Hoffnung sprudeln will in Gestalt einer angeblichen Heilquelle, die wir eigentlich im Buch gar nicht recht zu sehen bekommen. Aber nachfühlen können wir die sprudelnden Hoffnungen, vielleicht irgendwann ein Thermalbad zu haben, an dem man verdienen kann.

Aber wer verdienen wird, ist die Frage. Auf den Bärwald erheben sowohl die Branzdorfer als auch die die Klein Kloitzer Anspruch. Und letztere drohen nun, per Volksentscheid zu Sachsen zu wechseln. Eine Provinzposse wäre das, wenn man nicht um den ernsten Hintergrund existenzieller Sorgen wüsste. Jander muss sich auf die Suche machen nach etwaigen Dokumenten bezüglich des Eigentums. Schwierig. Sind da vielleicht auch Fälscher am Werk? Auf jeden Fall gibt es Leute, die noch alte Rechnungen zu begleichen haben. Und Jander, der als Kind das Buch „Die Söhne der Großen Bärin“ gelesen hatte, empfängt schon auf der Fahrt zu seinem Auftragsort ein seltsames Signal: Hügelan vermeint er, eine weißgekleidete Frau zu sehen. „Neben ihr lief ein Tier, groß und zimtfarben“.

Was mag es mit dieser geheimnisvollen Erscheinung wohl auf sich haben? Und was mit dem Rotbemützten, der in der Gegend Kräuter sammelt. „Olus transitus“ – Kraut der Veränderung – gibt es das wirklich? Und was hat das behaarte Muttermal damit zu tun, das sich auf Janders Arm nach einer Operation sogar noch ausbreitet? Auch muss Jander an seinen Vater denken, der an einem Buch schrieb. Irgendwann bekommt er das Manuskript sogar zu sehen und trifft in einem verwahrlosten Herrn seinen Onkel Henning wieder, der damals zur Beerdigung des Bruders nicht erschienen war. Es sei versprochen: Wer diesen Roman von Reinhard Stöckel einmal zur Hand nimmt, wird ihn bis zur letzten Seite nicht weglegen wollen.

Dabei konkurrieren wir die ganze Zeit mit dem Autor, Erklärungen für all die Seltsamkeiten zu finden. „Merkwürdig, dachte Jander“, nachdem er im Traum aufgeschreckt war. Für den eigentümlichen Geruch im Zimmer findet er den Grund: mehrere Blütenköpfe von „Olus Transitus“ steckten in seiner Tasche. Er wirft sie in den Papierkorb, aber wir können wohl nicht mehr die Augen davor verschließen, dass dem Mann wirklich eine Veränderung zugedacht ist.

„Kann es sein, sagt der Bär, dass es in unserem Leben eine Zeit unbeschwerten Glücks gegeben hat, eine Zeit, in der die Welt wie eine große Bärin war?“ Am Ende, so viel kann verraten sein, wird Jander zu einem neuen Glück aufbrechen. Und der Bärwald, Ort eines einstigen slawischen Heiligtums, wird dabei eine Rolle spielen. „Fürchte dich nicht“, sagt der Bär. „Auch der heilige Franziskus hat mit den Tieren gesprochen. Mit ihnen und nicht zu ihnen. Also sprich mit mir.“

Reinhard Stöckel: Bärensommer. Roman. Verlag Müry Salzmann, 190 S., geb.,  19 €.

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