Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

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Anatol Regnier: Jeder schreibt für sich allein

Zwischen Verführung und Gewissen

Anatol Regnier über Schriftsteller im Nationalsozialismus

Von Irmtraud Gutschke

Was hätte ich getan, wenn ich, sagen wir, 40 Jahre früher geboren worden wäre, das habe ich mich schon als Kind gefragt. Wenn wir in der Schule, wirklich genauestens, über die Schrecken der NS-Zeit unterrichtet wurden, verfolgte ich das noch bis in den Schlaf. Wenn wir von mutigen Menschen erfuhren, die ihre Widerstandsleistung mit dem Leben bezahlten, grübelte ich immer wieder insgeheim darüber nach, ob ich dazu fähig gewesen wäre. Dass ich zu viel Angst gehabt hätte und außer Landes gegangen wäre, vermutete ich. Und wenn ich dafür meine Eltern hätte zurücklassen müssen? Und hätte ich denn die Möglichkeiten dazu gehabt?

Die höchste Wertigkeit hatten in der DDR Künstler, die aktiv am Kampf gegen den Faschismus teilgenommen hatten. Ihnen folgten jene aus dem antifaschistischen Exil. Diejenigen, die im Lande geblieben waren, in der inneren Emigration, wie man es nannte, traf ein Verdacht. Insofern bin ich Anatol Regnier dankbar für sein Buch. Es ist großartig geschrieben, ausgezeichnet recherchiert, und es ist von tiefem menschlichen Verständnis geprägt.

Was bleibt uns angesichts einer Gefahr: kämpfen, fliehen, uns verstecken. Manchmal aber reicht es nicht einmal zu solcher Aktivität. Die Erstarrung wird ummäntelt mit der irren Hoffnung, dass es so schlimm nicht kommen würde, dass das „Unwetter“ oder der „Spuk“ bald vorüber seien. Und es dominieren die alltäglichen Sorgen. Die sind für einen Schriftsteller ja immer mit Publikationsmöglichkeiten verbunden. Durch Anpassung wird das Leben leichter, durch Widerstand schwerer bis hin zur Todesgefahr. Dazwischen liegt ein breites Spektrum von Möglichkeiten.

Anatol Regnier, Gitarrist und freier Autor, fand 2011 in London zufällig Hans Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“. An diesen Titel lehnte er sich mit seinem Buch an. Künstler sind meist Einzelkämpfer. Auch wenn sie sich solidarisieren, bleiben sie letztlich Konkurrenten. Fallada faszinierte ihn. „In aller Härte war hier offengelegt, was Menschen riskierten, die Widerstand gegen Hitler wagten.“ Gleichzeitig überraschte ihn die Normalität des Alltags. „So also hatten die Leute gelebt, nicht viel anders als zu anderen Zeiten.“

Soll man da nicht froh sein, dass es diesen Fallada gab, der von innen heraus von einer Wirklichkeit erzählte, die unsereinem in zeitlichem Abstand nur monströs erscheinen konnte? Wie erschrocken habe ich als Kind meine Eltern, meine Großeltern angeschaut, die in diese Zeiten hineingeboren worden waren. Ich höre noch, wie mein Großvater sich rechtfertigte, er habe nichts Schlimmes getan. Es sei schwer gewesen, sagte die Großmutter. Der Vater war ganz jung in den Krieg gepresst worden und war natürlich in der HJ gewesen, und die Mutter meinte, sie habe die aufgeblasenen Nazis immer verlacht.

Hat Fallada „mitgemacht“? Und wie war es mit Gottfried Benn? Mit Ernst und Friedrich Georg Jünger? Mit Leonhard Frank, Erich Kästner, mit Oskar Loerke, Ricarda Huch? Das Leben vieler Schriftsteller ist im Buch beleuchtet, detailliert oder nur angedeutet, einige, wie Anna Seghers, sucht man auch vergebens ebenso wie Stefan Heym und Stephan Hermlin. Bruno Apitz war acht Jahre im KZ Buchenwald inhaftiert, so wie Ernst Wiechert, der nach Protesten aus dem In- und Ausland von dort entlassen wurde und mit „Das einfache Leben“ 1939 einen regelrechten Bestseller schrieb. Der wunderbare Jakob Wassermann indes durfte, weil er Jude war, ab 1933 nicht mehr veröffentlichen und starb 1934 mit nur 60 Jahren. Viele gingen ins Exil. Ausführlich behandelt wird hier vor allem

die Familie Mann. Anderen, wie Ina Seidel, mit der sich Regnier ausführlich beschäftigt, war Anerkennung wichtiger als alles andere, und das hatte seinen moralischen Preis.

Der Autor folgt den einzelnen Schicksalen mit gewissenhafter Einfühlsamkeit. Er sucht Nähe und wahrt Abstand, den es auch braucht zu differenzierter Sicht. Klare Konturen in Schwarz-Weiß sind durchaus nötig gewesen in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Erbe des Nazismus, die in der DDR bekanntlich konsequenter als in der BRD gewesen ist. Aber politische Verurteilung allein reicht nicht aus, um Lehren zu ziehen, weil das einzelne menschliche Leben so voller konkreter Entscheidungen ist. Da braucht es zum Bewerten auch das Durchdenken. „Lasst euch nicht verführen“, heißt es bei Bertolt Brecht. Das gilt zu jeder Zeit.

Anatol Regnier: Jeder schreibt für sich allein. Schriftsteller im Nationalsozialismus. Verlag C.H. Beck, 366 S., geb., 26 €.

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