Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Der 8. Mai. Geschichte eines Tages

herausgegeben von Alexander Rahr und Wladimir Sergijenko

Der goldene Traum vom Frieden

Von Irmtraud Gutschke

Die große Militärparade auf dem Roten Platz wird verschoben, ebenso wie die Paraden in zahlreichen anderen russischen Städten. Das Rätselraten, welche Politiker aus aller Welt der Einladung von Präsident Putin am 9. Mai folgen würden, kann man sich nun schenken. Corona wird auch die Märsche „Unsterbliches Regiment“ verhindern, die 2019 über Russland hinaus in rund 80 Ländern stattgefunden haben. Allein in St. Petersburg gingen dazu vor einem Jahr über eine Million Menschen auf die Straße und trugen die Bilder ihrer im Krieg verstorbenen Angehörigen vor sich her. Der Große Vaterländische Krieg dauerte 1418 Tage und hat rund 27 Millionen Menschen der UdSSR das Leben gekostet – 13 Millionen Soldaten und 14 Millionen Alte, Frauen und Kinder, denn die wehrfähigen Männer waren ja im Krieg. So ist es in diesem Buch zu lesen. In anderen Schätzungen ist sogar von 40 Millionen Toten die Rede. Fast jede Familie hat Angehörige verloren. So ist dieser Tag Siegesfeier und Totengedenktag in einem, auch wenn die Zahl derjenigen immer kleiner wird, die das Grauen noch durchlebt haben.

Hierzulande ist es nicht anders. Die Jüngeren wissen über diesen Krieg nur vom Hörensagen – und wollen womöglich auch nichts davon wissen. Zu schwer, zu belastend. Medienbeiträge sind in ihrer Ausrichtung unterschiedlich und oft auf Quoten bedacht. Mitunter schien es, als sei Hitler gar zum Fernsehliebling geworden und hinter diversen privaten Spekulationen träte der verbrecherische Charakter jenes Systems in den Hintergrund, für das er gestanden hat. Wobei sich in den Sichten auf deutsche Vergangenheit eine Ost-West-Spaltung wohl bemerkbar macht. Das Buch „Der 8. Mai. Geschichte eines Tages“ enthält nicht nur Beiträge aus dem Osten und reicht weit über das Deutsch-Deutsche hinweg. Aber aus vielen Teilen ergibt sich doch ein Bild, das meiner Generation vertrauter sein mag als Jüngeren und auch als jenen, die in der BRD als Nachfolge der US-amerikanischen, britischen, französischen Besatzung aufgewachsen sind.

Eine Sammlung ganz verschiedener Erinnerungen: Nun, da sie fertig ist, scheint es, es könne nicht anders sein. Doch welche Mühe wird es bereitet haben, die verstreuten Texte zusammenzusuchen und zu -fügen. Es musste gekürzt werden, sonst wäre der Band dreimal so dick geworden. Sowas hat Konsequenzen. Der Schwerpunkt liegt auf dem Faktischen, nicht dem Literarischen. Es soll nachvollziehbar werden, wie es jenen im Chaos der letzten Kriegstage erging, die zum Teil inzwischen nicht mehr am Leben sind, uns also nichts mehr davon erzählen können. Womit beginnen, womit enden?

Auf den ersten Seiten lesen wir, wie eine junge Frau namens Vera in einer Berliner Gartenkolonie in Anwesenheit von Rotarmisten Anfang Mai 1945 eine US-Flagge näht. Zu welchem Zweck, wir wissen es nicht. Auf den letzten erleben wir die Siegesparade am 9. Mai auf dem Roten Platz aus der Sicht von Gregory Klimow, von dem wohl gesagt wird, dass er, Absolvent der Moskauer Militärakademie, eine Zeitlang in der Sowjetischen Militäradministration in Berlin-Karlshorst arbeitete und nach der Flucht in den Westen für die CIA als „Ostblockexperte“ tätig war, aber dass er eigentlich Igor Kalmykow hieß, Klimow sein Künstlername war, nachdem er in Westdeutschland falsche Dokumente unter dem Namen Ralf Wernererworben hatte, und welche abstrusen Ansichten (sein Antikommunismus sei ihm geschenkt) er in seinen späteren Büchern vertrat, können Leser nur selbst recherchieren und sich fragen… Auf jeden Fall kann man Klimow nicht en passant mit unverfänglichen Äußerungen irgendwo „unterbuttern“, braucht es für ihn einer eingehenderen, wohl auch kritischen Beschäftigung.

Wie schrecklich dieser Krieg war, auch wenn es weh tut, man muss es sich vor Augen führen zu Zeiten, da hierzulande schon der mögliche Mangel an Toilettenpapier zu vorsorglichen Panikkäufen führt. Im Heulen der Geschütze oder im Kriegsfangenlager, in Luftschutzbunkern oder auf der Flucht – immer geht es hier um authentisches persönliches Erleben. Aber auch die „Königsebene“ fehlt nicht. Aus unterschiedlichen Perspektiven sind die Kapitulationsverhandlungen beschrieben. Nachdem Deutschland vergeblich versucht hatte, mit der UdSSR lediglich einen Waffenstillstand auszuhandeln und mit den Westmächten einen Separatfrieden, wurden am 7. Mai in Reims und am 8. Mai in Berlin-Karlshorst die Kapitulationsdokumente unterzeichnet. Weil dies erst um Mitternacht geschah, wird, der Zeitverschiebung wegen, auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion der 9. Mai als Tag des Sieges begangen.

„Der goldene Traum der Menschheit vom Frieden in aller Welt ist an diesem sonnigen Tag des 9. Mai in Erfüllung gegangen“, schrieb Gregory Klimow in seinem 1951 bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Buch. Da musste er schon gewusst haben, dass längste ein kalter Krieg begonnen hatte.  Wie Alexander Rahr in seinem Nachwort darstellt, hatten die Westalliierten gehofft, „dass der sowjetische Bolschewismus und der deutsche Nationalsozialismus … sich wie zwei Bestien selbst zerfleischen würden“. Die Antihitlerkoalition war eine Zweckgemeinschaft, die, wie wir wissen, bald zerfiel. „Im September 2019 stimmte das Europaparlament mit großer Mehrheit zum wiederholten Mal für eine Resolution, Kommunismus und Nationalsozialismus gleichzusetzen, beide Systeme als totalitäre Diktaturen zu brandmarken und Hitler und Stalin gemeinsam als Anstifter des Zweiten Weltkrieges zu verurteilen – mit allen daraus folgenden negativen Konsequenzen für das heutige Russland, das die Rechtsnachfolge der Sowjetunion angetreten hatte… Die alten Gespenster sind zurück“, schreibt Alexander Rahr. „In Osteuropa werden Denkmäler, die an den Sieg der Sowjetunion erinnern, gestürzt. Und keine westliche Regierung protestiert dagegen.“

Ein Text voller interessanter historischer Fakten – zum Beispiel darüber, wie die Friedensverträge von Brest-Litowsk 1918 und Versailles 1919 mit den Ergebnissen des Zweiten Weltkriegs und der heutigen Situation zusammenhängen –, wie auch voller Trauer darüber, dass es nach dem Zerfall der Sowjetunion eben nicht zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsordnung mit Russland gekommen wird, sondern zu einer Osterweiterung der NATO. Dass entsprechende Propaganda auch vor historischen Fakten nicht Halt macht, war zu erwarten. Gerade vor dem Hintergrund vielfältiger Versuche, Geschichte zu verfälschen und die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges zu revidieren, ist dies ein wichtiges Buch.

Der 8. Mai. Geschichte eines Tages. Herausgegeben von Alexander Rahr und Wladimir Sergijenko. Nachwort Alexander Rahr. Das Neue Berlin. 224 S., geb., 22 €.

Zum Shop des Verlages: https://www.eulenspiegel.com/verlage/eulenspiegel-verlag/neuerscheinungen/titel/2298-der-8-mai.html

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