Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Russland-Kontainer

„Vaterland der Besonderheiten“

Der „Russland-Kontainer“ von Alexander Kluge ist durchstrahlt von „Innerem Licht“

Von Irmtraud Gutschke

Die „Russland-Liebe“ seiner Schwester Alexandra (1937-2017) habe ihn zu diesem Buch inspiriert, bekennt Alexander Kluge. Beide wurden sie in Halberstadt geboren und gingen dort zur Schule. Alexandra allerdings wurde noch von der DDR geprägt und lernte Russisch, während ihr älterer Bruder nach der Trennung der Eltern mit der Mutter nach Westberlin zog und dort sein Abitur machte. Im Buch steckt also auch eine deutsch-deutsche Geschichte, allerdings viel mehr als das. Es ist kein Sachbuch über Russland, eine Streitschrift gar für bessere bilaterale Beziehungen, doch wer derlei sucht, kann auch das im „Kontainer“ finden, muss aber tief graben und für Zwischentöne aufmerksam sein. Denn nur so lässt sich Alexander Kluges Arbeit genießen: Indem man seinen Assoziationen folgt. Indem man die abgezirkelten Wege rationaler Festlegungen verlässt, diesen umzäunten Gedankenpark, wo schon alles voraussehbar scheint wie in einem altbekannten Film mit Für und Wider als Rollenspiel. Raus aus diesem Szenario! Ins Weite, ins Unbekannte.

Lesevergnügen über 400 Seiten. Seltsames Glück schon zu Beginn. Plötzlich kam mir die Erinnerung an einen Dachboden zu Kinderzeiten, wo ich stöbern durfte, während der Vater unten bei seiner Cousine saß. Staubteilchen im schräg hereinfallenden Sonnenlicht und Kartons voller ungeahnter Schätze: Bücher, Fotos, Schreibutensilien, Briefmarken sogar. Kaum tragen konnte ich, was ich so gern mit nach Hause genommen hätte. Dabei war das Stöbern viel schöner als das Besitzen.

So steckt auch dieser Kontainer voller Überraschungen. Voran treibt es einen von einer zur nächsten. Und am Schluss muss man wohl noch einmal zurück. So viel Stoff zum Staunen, dass die Einzelheiten einander überlagern können. Wovon handelt das Buch eigentlich? „Der ‚ungeknechtete Stoff‘, der den Materialien und dem Leser die ‚Freiheit lässt zu atmen‘“ – das ist seit jeher Alexander Kluges künstlerisches Metier gewesen, der ja nicht nur Schriftsteller, sondern auch Filmemacher und Fernsehproduzent ist. Natürlich gibt es eine wohlüberlegte Komposition, aber in die sind Leerstellen eingebaut, Freiräume, durch die man sich bewegt, wie man will. Und das in Bezug auf das Russland-Thema? Schwarz-Weiß-Denken wird gar nicht erst in Betracht gezogen, uninteressant von vornherein. Wenn Heiner Müller von einem „großen Rätsel“ sprach, das „für uns im Osten liegt“, ist damit der Energiestrahl benannt, auf dem sich die Texte bewegen. Viele, viele Abschnitte in fünf Kapiteln.

Das erste: „Alle Seelen Russlands weisen mit ihren Wurzeln zum Himmel“ beginnt mit Mussorgskis Oper  „Chowantschtischna“, den Altgläubigen in Russland und führt weiter zu einer Nachricht an Außerirdische, die in einer russischen Weltraumsonde steckt. Wir werden die russische Astronomin Karina Sedowa kennenlernen, die uns noch einmal bewusst macht, dass wir nicht „nach oben in den Kosmos blicken, sondern von der Erdoberfläche hinunter in die Weiten des Himmels“. Ihr werden  wir später nochmals begegnen. Aber erst einmal kommt uns Heiner Müller mit seiner auf der Bitterfelder Konferenz ausgesprochenen Prognose, dass das Energiereservoir der Sterne irgendwann ausgebeutet werden würde, was Alexander Kluge zu einer Vision von Trotzki aus dem Jahre 1922 bringt, zu den „Biokosmisten“ von 1917 und ihrem Traum von der Auferweckung der Toten, dem sowjetischen Raumfahrtprogramm und zur „Grundschwingung des Baikalsees“. Weiter geht es zur russischen Zirkuskunst und zu den Ansichten des Mönchs Andrej Bitow (nicht mit dem Schriftsteller zu verwechseln) über „morphische Felder“ in der Zeit. Dass Russland 1918 vom Julianischen zum Gregorianischen Kalender wechselte, hatte Folgen…

Ausflüge in Bereiche, wo wir vielleicht noch nie waren, wo wir uns auch nicht recht auskennen können ­ reagieren deutsche Leser da anders als russische? Ist unsereins womöglich stärker befangen im Anspruch auf vernünftige Struktur? Alexander Kluge hat mit Hilfe von Thomas Combrink so viel Material zusammengetragen – zu den Texten gibt es Fotos, Zeichnungen, Abbildungen von Filmszenen –, dass selbst der Anmerkungsapparat von über 40 Seiten interessante Lektüre bietet. Aber ein ihm unbekanntes Buch (weil auf Russisch) wäre ihm noch zupass gekommen: „Mentalitäten der Völker der Welt“ von Georgij Gatschew, der auf faszinierende Weise Gefühlslagen in Deutschland und Russland vergleicht. Alexander Kluge geht ja einen ähnlichen Weg, indem er in der Größe Russlands mehr als eine geografische Besonderheit sieht.

„Die Naturkräfte (des Geistes, der Körper, die Gelände) verhalten sich im großen Russland nicht schulmäßig“, lesen wir auf Seite 76, wo Juri Andropow, damals noch KGB-Chef, sich von Akademiemitglied Welizki Friedrich Engels‘ „Dialektik der Natur“ erklären lässt. Wir würden gern weiter zuhören, aber schon sitzen wir 1941 neben Joseph Goebbels im Flugzeug Richtung Smolensk. Ein Schneesturm erzwingt die Umkehr. Wie Napoleons und Hitlers Truppen siegesgewiss in die russischen Weiten eindrangen und gleichsam von ihnen gelähmt und verschlungen wurden, wird den Autor später noch ausführlicher beschäftigen. Womit sich Russland Unbesiegbarkeit begründet, diese Frage bewegt ihn die ganze Zeit. „Die Fläche verzehrte den Stolz der Armee“ (147), aber es kommt noch ein subjektives Moment hinzu und manches nicht Fassbare. Bei Schwester Alexandra stand Puschkin zwölf Mal im Regal. „Oft gehe ich als Schutzengel umher und erteile freundschaftlichen Rat“, heißt es bei ihm. Puschkins Novelle „der Schneesturm“ zeigt, so Alexander Kluge, wie sehr er BRUDER IN DER WELTSEELE MIT HEINRICH VON KLEIST ist, und die Weltseele besteht, wie man weiß, nicht aus EINEM GEIST, sondern aus Milliarden Bruderschaften von Lebenden und Toten“. Menschenschicksale in vielen Episoden. Das „Gemütswasser, in dem unsere Entscheidungskräfte schwimmen“ – hier findet es mehr Anerkennung als üblicherweise.

Ansteckend ist die Begeisterung mit der Alexander Kluge das „Vaterland der Besonderheiten“ (Andrej Platonow) erspürt, beginnend schon mit der Sprache. Mit Hilfe der Übersetzerin Rosemarie Tietze hat er nicht nur  Bezeichnungen in Kyrillisch beigefügt, wenn ihn ein Wort besonders interessiert, er hat immer wieder auch „Wortfelder“ erkundet, am Schluss die Bezeichnungen für Weite und Freiheit: prostor und dal sowie svoboda und volja. Dazu die Wörtchen avos, nebos und vrode. Die Sprache, da ist er ganz nahe bei besagtem Georgij Gatschew, sagt viel über die Seele eines Volkes. Im Heute stecken Jahrhunderte bis zur jüngsten Gegenwart. Treffend Kluges „Memento für die verlorengegangene Perestroika“, bedenkenswert die Warnung des einstigen US-Außenministers James Baker 1991 vor der Demütigung einer Großmacht. „Die Rache aber werde die Vereinigten Staaten in etwa 40 Jahren unvorbereitet treffen…“

„Es war ein Raubzug.“ Wie das kam, wird in aller Knappheit hintergründiger als anderswo erklärt. Wissen in Andeutungen. Das macht die Lektüre so spannend. Abgebildet sind die „Räuber von Minsk“. Gespräche gibt es mit mehr als einem Geheimnisträger. Aber reizvoller noch ist für den Autor die Suche nach den „in unsere Realität eingerollten Dimensionen“. Bekenntnis auf Seite 272: „So schreibe ich in diesem Kontainer in Wahrheit auch nur von mir.“ Von der Sehnsucht, erstaunt zu werden, von der Sehnsucht nach Utopie. „Das INNERE LICHT überdeckt von Waren“ – er will es, auch für sich, wieder hervorscheinen lassen. „Gibt es in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts einen Utopie-Horizont?“ Das ist die große Frage, und mir scheint, dass Alexander Kluge mit seinen 88 Jahren gern eine positive Antwort darauf hätte.

Sein „Russland-Kontainer“ ist übervoll und für entdeckungshungrige Leser unerschöpflich. Ich komme vom Dachboden, glücklich und kann kaum tragen, was mir interessant erscheint. „Das kannst du unmöglich alles mit nach Hause nehmen, du weißt, dass du nur ein ganz kleines Schränkchen für dich hast“, sagt mein Vater. „Aber wenigstens dieses Buch pack ein“, tröstet die Tante. „Ihr kommt ja wieder her…“

Alexander Kluge: Russland-Kontainer. Mitarbeit Thomas Combrik. Suhrkamp, 444 S., geb., 34 €.

Zum Shop des Verlages: https://www.suhrkamp.de/buecher/russland-kontainer-alexander_kluge_42892.html

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1 Kommentar

  1. Eva 8. Juni 2020

    ein sehr schöner Text

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