Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Der Edle und der Ochse

„Selbstkultivierung“

Helwig Schmidt-Glintzer sucht die Wurzeln von Chinas Stärke auch in seinen Traditionen

Von Irmtraud Gutschke

Vor Jahren noch sprach man darüber nur hinter vorgehaltener Hand, heute ist es nicht mehr zu leugnen: Bezüglich seiner Wirtschaftskraft ist China gegenüber den USA und auch der Eurozone auf der Überholspur. Wie funktioniert dieses riesige Land, das aus vielen Völkern und Kulturen zusammengesetzt ist? Darauf gibt Helwig Schmidt-Glintzer, bis 1993 Professor für Ostasiatische Kultur und Sprachwissenschaft an der Universität München und danach bis 2015 Direktor der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, eine interessante Antwort. „Das politische System scheint heute stabiler denn je, schon weil die Bevölkerung Chinas aus Furcht vor Chaos zu einer Gemeinschaftsbildung mit begrenzter Machtdelegation neigt.“

Eine starke Zentralmacht wird hierzulande schnell als „autoritär“ kritisiert. Von einem einzigen Machtzentrum aus, würde sich ein so differenzierter Staat indes nicht regieren lassen, wie das Scheitern des sozialistischen Versuchs in Europa zeigt. Es braucht fähige Funktionsträger vor Ort mit einem Freiraum, schöpferisch zu agieren. Das Entstehen einer osteuropäischen Oligarchie aber zeigt, wie groß die Versuchung ist, dass solche „Territorialfürsten“ sich auf Kosten der Allgemeinheit hemmungslos bereichern, obwohl sie im Parteilehrjahr fleißig gewesen waren. In China, wo es seit jeher die Befürchtung zentripetaler Bewegungen gab, hat man diese Vorgänge analysiert. Ein „moralischer Kompass“ ist dort weit mehr als ein Parteitagsbeschluss.

Helwig Schmidt-Glintzer ist in chinesischer Geschichte und Kultur bis in die Details hinein so bewandert wie die meisten seiner Leser nicht. Er sieht das Prinzip „Selbstkultivierung“ in einer langen Tradition, auf die sich der heutige Staat berufen kann. Gemeint ist „das Bild des verlässlichen und nach dem Prinzip des Anstands und im Sinne des Gemeinwohls handelnden Staatsbürgers“, eines Menschen, „der sich keiner Kontrolle außer dem eigenen moralischen Kompass verpflichtet fühlt, wie es traditionell in dem Literatenbeamten idealisiert wurde“. Literatenbeamte: Der hierzulande unbekannte  Begriff geht auf die komplizierten Beamtenprüfungen im kaiserlichen China zurück, bei denen auch die Befähigung in Kunst und Literatur unter Beweis zu stellen war. Da spielt auch die durchaus komplizierte Schrift eine Rolle. Sie zwingt in Regeln, verlangt dauernde Übung und kann doch in winzig Details die Persönlichkeit des Schreibenden erkennen lassen.

„Der Edle passt sich an, aber macht sich nicht gemein“, wird Konfuzius zitiert, ohne dessen Erbe das China von heute wohl nicht zu verstehen ist. „Das Prinzip der Harmonie“, so in westlichen Gesellschaften nicht geläufig, verlangt, „dass alle ihr Gesicht wahren können“. Soweit es möglich ist, sei hinzugefügt, denn die Drohung drastischer Strafen bei Übertretung der Regeln hängt immer in der Luft. Angestrebt aber sind „Vertrauens- und Verantwortungsnetzwerke“. Ist es falsch, dabei an die Formen ursprünglicher Gemeinwesen, Dorfgemeinschaften u.ä. zu denken, die von der Kapitalisierung in Europa hinweggefegt wurden? Auch sind, wie Schmidt-Glintzer erklärt, in den heutigen chinesischen Sinnstiftungsprozessen auch Kulte und diverse religiöse Deutungstraditionen lebendig, so dass sie tiefe Wurzeln haben.

 „Der Edle und der Ochse“ – mit dem Buchtitel bringt Helwig Schmidt-Glintzer das tradierte Bild des Ochsen ins Spiel – „für den sich abmühenden Staatsdiener, der keine Anerkennung erfährt“, doch seiner Verantwortung fürs Ganze treu bleibt.  Und er zitiert den Professor für Ostasienwirtschaft Markus Taube: „Ohne die treibende Kraft dezentraler polit-ökonomischer Unternehmer, die die  bestehenden Ordnungsstrukturen immer wieder in Frage gestellt haben … wäre das ‚chinesische Wirtschaftswunder‘ nicht realisiert worden.“ Wobei das Wirtschaftswunder eben nicht Selbstzweck ist. Wenn das Ziel der KPCh in einem Sozialismus neuer Prägung besteht, darf der Staat eben nicht vom kapitalistischen Tiger geritten werden, sondern muss das Kunststück fertigbringen, den kapitalistischen Tiger zu reiten. Da gibt uns der Autor dieses Buches mit einem Spruch des Philosophen, Sinologen und Übersetzers Fabian Heubel zu denken: „Ein Weg, um Europäer zu werden, ist, Chinese zu werden.“ Tatsächlich, so meine ich, wäre vieles von China zu lernen, und das uralte Prinzip des „tianxia“ – alles unter einem Himmel –  könnte Modell sein für eine Welt, um zusammen mit dem Imperialismus ihre kriegerischen Auseinandersetzungen zu überwinden.

Helwig Schmidt-Glintzer: Der Edle und der Ochse. Chinas Eliten und ihr moralischer Kompass. Matthes & Seitz, 125 S., br., 14 €.   

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