Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Erzählende Affen

Macht der Geschichten

Von Irmtraud Gutschke

Die Bedeutung der Sprache für die Menschwerdung des Affen ist unumstritten, doch wann und warum begannen wir, über das Notwendige hinaus Geschichten zu erzählen? Um uns unserer selbst bewusst zu werden, stellen Samira El Oassil und Friedemann Karig schon zu Beginn ihres Buches fest. „Ein Großteil unserer kognitiven Kapazitäten ist genau damit beschäftigt: eine möglichst stimmige Selbsterzählung zu pflegen.“ Zugleich waren Geschichten eminent wichtig für das Zusammenleben, schon in früher Urzeit für die sozialen Bindungen innerhalb des Stamms. Auf diese Weise erklärten sich unsere Vorfahren die Welt, deren wissenschaftliche Erforschung für sie noch weit in der Zukunft lag, sie setzten sich mit dem Bewusstsein ihrer Sterblichkeit auseinander, beschworen ihre eigenen Kräfte und die der Gemeinschaft, um im Daseinskampf mit Naturgewalten und fremden Stämmen zu überleben. „So haben Geschichten uns den Himmel erklärt, die Furcht vor der Dunkelheit genommen, unsere Schiffe an fremde Küsten und schließlich ins All gelenkt. Geschichten lehren uns, wie man lebt und wie man liebt … Doch sie haben uns auch Angst eingeflößt, gegeneinander aufgehetzt …“

Das dicke Buch der beiden Kommunikations- und Medienwissenschaftler ist selbst eine mitreißende Erzählung, die einen beim Lesen so beschäftigt, dass man nicht damit aufhören will. Der Gedanke ist doch interessant, dass „Mythen, Lügen, Utopien“ auch heute auf Mustern beruhen, die schon seit langer Zeit in uns eingeschrieben sind. Indem wir zum Beispiel mit Helden und Heldinnen Beziehungen eingehen (interessanterweise wird im Buch durchweg die weibliche Form verwendet, man muss sich die Männer hinzudenken), „loten wir immer auch unsere eigenen Fragen, Hoffnungen und Werte aus.“ Und alles soll auf ein glückliches Ende hinauslaufen.

Wir wollen, müssen verstehen, was geschieht. „Jede noch so rudimentäre oder fehlerhafte Erklärung ist besser als keine … Die Sehnsucht nach Gründen ist so stark, dass Kausalität für uns selbst dort gegeben sein muss, wo wir sie logisch nicht herstellen können.“ Es ist uns zuwider nur Spielball von Zufällen zu sein. So laufen viele Geschichten darauf hinaus, uns zum Spieler unseres Schicksal zu machen. Wie derlei mythische Muster unsere ganze Kultur durchdringen und immer wirkmächtiger werden in ihren trivialen Verästelungen, ist hier sehr scharfsinnig analysiert. „Jede Geschichte erzählt grundsätzlich davon, dass man Probleme überhaupt lösen kann – und wie man das genau macht.“ Ewige Sinnsuche: Das heißt, Informationen werden von uns auch unwillentlich manipuliert, verständlich gemacht mit Hilfe von mustern, die wir immer schon benutzt haben. Der Frage, inwieweit wir uns dabei trauen können, gelten im Buch überaus interessante Überlegungen. Hinzu kommt, dass solche Narrative auch hergestellt werden können zu Zwecken unserer Gefolgschaft. Was tun, damit das „narrative Selbst“ nicht überlistet wird? Die Mechanismen kennen – dazu vermittelt das Buch Befähigung.

Was das Internet mit seiner Überfülle an Informationen und Meinungen mit uns macht, wie gesellschaftliche Spaltungen entstehen können, wie das neoliberale Märchen, Jeder sei seiner Krone Schmied, massenhaft unglücklich macht, wie soziale Ungerechtigkeit aufwühlt und dass es selbst im Kampf um Gerechtigkeit Konkurrenz gibt, wie der amerikanische Traum entstand und deutsches Selbstbewusstsein allein als Begriff einem Verdacht unterliegt – das Buch greift weit aus. Da ist Autoren und Verlag ganz besonders auch für die Mühe zu danken, uns Lesern ein 13-seitiges, eng gedrucktes Register an die Hand zu geben. So wird der große Text, den wir verschlungen haben, auch als Nachschlagewerk praktikabel.

Ob wir für die Probleme der Gegenwart vielleicht neue Erzählungen brauchen, auf diese Frage wollen die Autoren hinaus. Katastrophenszenarien bezüglich der Klimakrise, wie wirksam sind sie? Wie könnte dieses wichtige Thema anders, besser erzählt werden? Da lässt uns das Buch mit viele Stoff zum Nachdenken zurück.

Samira El Ouassil & Friedemann Karig: Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen. Ullstein Verlag, 522 S., geb., 25 €.

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