Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Ilko-Sasha Kowalczuk: Walter Ulbricht

Dokument einer Annäherung

Die monumentale Ulbricht-Biografie von Ilko-Sascha Kowalczuk

Irmtraud Gutschke

Was für ein Wälzer: 777 Seiten Text und ein Anmerkungsapparat von 229 Seiten. (Dabei ist das komplette Literaturverzeichnis noch nicht einmal enthalten, sondern soll ab Frühjahr 2024 auf der Webseite des C.H.Beck-Verlages abrufbar sein.) Allein schon das Namensregister, beginnend mit dem Physiker und Sozialreformer Ernst Abbe und endend mit dem Kommunisten Albert Zwicker, der 1943 in einem Lager des NKWD verstarb, ist eine Fundgrube für sich. Wer je so ein Register mit Seitenverweisen erstellt hat, weiß, wieviel Arbeit es macht. „Ich habe an dieser Biographie viele, viele Jahre gearbeitet, fast mein ganzes Leben“, bekennt Ilko-Sasha Kowalczuk. Dabei gibt er von Anfang an zu, dass Ulbricht ihm „immer fremd“ gewesen ist. Umso interessanter, wie er aus seiner Distanz heraus eine Annäherung an den Mann versucht, der aus seiner Sicht „der erfolgreichste Kommunist in der deutschen Geschichte“ war. Obwohl er dessen Gesinnung nicht teilt, konnte er von ihm fasziniert sein. Und dass er dies zugibt! Überhaupt beeindruckt von Anfang an die aufrichtige Art wie er mit seinen Lesern und mit sich selbst umgeht, wie packend er zu erzählen vermag.

Getreulich folgt er Walter Ulbrichts Leben, der 1983 in Leipzig als Sohn eines Schneiders geboren wurde und zunächst als Mitglied der SPD aktiv war. Und er betrachtet ihn nicht isoliert, sondern immer im Zusammenhang mit jener Zeitgeschichte, die vielen schon kaum mehr gegenwärtig ist. Das geschieht so detailliert, dass dies allein schon die Lektüre lohnt, und stellt wohl manche bisherige Vorstellung infrage. Man merkt beim Lesen, wie sich spätere Urteile über die früheren Realitäten gelegt haben. Man gerät mit sich in Streit. So wie übrigens auch der Autor dieses Buches mit sich in Streit geraten ist. Wobei Geschichtsbilder wohl immer irgendwie holzschnittartig vereinfacht sind  vor dem Hintergrund aktuell-politischer Interessen. Ulbrichts Bild wurde dunkel gemalt, sogar von den eigenen Genossen. Und nun kommt ein Nichtkommunist daher, („Anti“ wollte ich nicht schreiben) ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. So seltsam geht es mitunter zu.

Wie oft wurde Ulbricht zu DDR-Zeiten lächerlich gemacht (was in Honeckers Interesse war). Hier aber erlebt man ihn als intelligenten Mann, der unablässig bestrebt war, sich Wissen anzueignen, der über politischen Durchblick verfügte, der in schwierigen Situationen immer wieder auf die Probe gestellt wurde. Der eigenständig agieren wollte und deshalb schließlich die Gnade des Kreml verlor.

Aber darum geht es hier noch nicht. Zwar erschien das Buch aus aktuellem Anlass – vor fünfzig Jahren, am 1. August 1973, ist Ulbricht ausgerechnet während der Weltfestspiele der Jugend und Studenten, verstorben, nachdem er von Honecker entmachtet und gedemütigt worden war, aber die DDR-Zeit soll erst in einem für 2024 angekündigten zweiten Band eine Rolle spielen. Der vorliegende trägt den Untertitel „Der deutsche Kommunist“. Und der nächste? Es täte mir leid, wenn Ulbricht da einfach den grobgeschnitzten Stempel „Diktator“ bekäme. Jedenfalls bin ich gespannt, wie Kowalczuk in seiner akribischen Art mir manches vor Augen bringen wird, was ich bislang nicht wusste.

Ilko-Sascha Kowalczuk: Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist (1893-1945). C.H.Beck Verlag, 1006 S., geb., 58 €.

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