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Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

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Islamische Imperien

Ein anderer Blick nach Süd und Ost

Justin Marozzi erzählt anhand von 15 Städten die glanzvolle Geschichte der islamischen Zivilisation

Von Irmtraud Gutschke

„Chaos, Kampf, Blutvergießen, Diktatur, Korruption, Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit“ – damit assoziiert der Westen heute die arabische Welt. Nicht zu Unrecht. Die Menschen, die von dort zu uns kommen, sind vor Krieg und Armut geflohen. Wenn sie auch gnädig aufgenommen werden, müssen sie sich doch einer gewissen Herablassung erwehren. Wir Europäer wähnen uns im Besitz des kulturellen Kapitals einer großen Geschichte. Es ist, als ob in unseren Seelen noch die Kreuzritter steckten, die zur Verteidigung des christlichen Abendlandes gegen alle Andersgläubigen auszogen, sie bekehren, aber meist einfach nur niedermetzeln wollten.

„Wenn es jedoch um die geografischen Ursprünge der Zivilisation geht“, schreibt Justin Marozzi, „müssen wir den Blick von Rom dreitausend Kilometer nach Südosten richten, auf den heutigen Irak, den die alten Griechen über weite Teile ihrer tausendjährigen Geschichte als Südmesopotamien bezeichneten … Hier entstanden und blühten vom 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung an über die Zeit der Sumerer und die der Babylonier, Assyrer, Achämeniden. Seleukiden, Parther, Römer und Sasaniden Städte wie Akkad, Assur, Babylon, Ur, Uruk, Ninive, Nippur und Nimrud … Von den meisten waren nur noch bröckelnde Ruinen übrig, als der Islam im 7. Jahrhundert entstand.“

Beginnend mit Mekka im 7. Jahrhundert erzählt der britische Historiker auf mitreißende Weise die glanzvolle Geschichte der islamischen Zivilisation. Lange bevor Damaskus vom Krieg in Syrien betroffen war, flanierte er dort durch die Altstadt in Erinnerung an deren wechselvolle Geschichte. Er genießt den Zauber von Bagdad und führt uns ins spanische Córdoba, das im 10. Jahrhundert unter der Umayyaden-Dynastie geradezu erblühte. Jerusalem, die „Welthauptstadt der Religionen“: Auch hier verbindet der Autor detaillierte historische Darstellung mit Elementen der Reportage. Mit Kairo war er schon als Jugendlicher vertraut. Im Vergleich mit dieser Metropole erscheint ihm London „geradezu fade“. „Die Stadt schwelgt in Schäbigkeit, monumentaler Pracht, Hässlichkeit, Kitsch und Ramsch.“

Fès in Marokko ist im 13. Jahrhundert das „Athen Afrikas“ gewesen. Von der Schönheit Samarkands in Usbekistan hat wohl jeder schon einmal gehört, ohne zu wissen, dass im 14. Jahrhundert dort Timur, auch Tamerlan genannt, regierte, ein Heerführer, der weder lesen noch schreiben konnte, doch eines der größten Weltreiche schuf und sich in die Stadt geradezu verliebte. „In den neuen Akademien und Bibliotheken, die er baute, sammelten sich im Ausland gefangen genommene Wissenschaftler und Gelehrte, Schriftsteller, Philosophen und Historiker, die der Stadt geistigen Glanz verliehen.“ So wurde Timurs Samarkand zu einer der „am stärksten kosmopolitisch geprägten Städte der Welt“. 1405 starb Timur im Alter von 68 Jahren – im Sattel, auf dem Weg in den Krieg gegen den chinesischen Ming-Kaiser.

Viele folgen heute in Istanbul den Spuren des alten Konstantinopel, aber das afghanische Kabul einen „Garten in den Bergen“ zu nennen, käme niemand auf die Idee. Nur mit einem schrecklichen Krieg scheint diese Stadt verbunden. Schon als der Autor 1996 dort war, sah er „die historischen Bauten zerschossen, zerbombt, geplündert, zerschlagen …  Es war eine Stadt voller verfallener Paläste, zerstörter Fabriken, verwüsteter Parks und Gärten, entkernter Häuser, eingefallener Lehmwände und aufgerissener Straßen.“ Nach dem Truppenrückzug aus Afghanistan spielt Doha eine wichtige Rolle für Verhandlungen mit den Taliban. Die Hauptstadt von Katar mit ihren glänzenden Wolkenkratzern beschließt den Reigen der 15 Städte, in dem vorher noch von Isfahan, Tripolis, Beirut und Dubai die Rede war. Überall sonnen sich einige Wenige in ihrem Reichtum, halten sich allen Fortschritt zugute und sehen sich im Recht, über die Masse der Bevölkerung zu herrschen.

 „Früher waren islamische Imperien im Grunde nach außen gewandt. Dynamisch, geistig neugierig und für ihre Zeit häufig außerordentlich tolerant. Heute ist diese – Angriffen von innen und außen ausgesetzte – Region großenteils introvertiert, intolerant, stagnierend und in der Hand von – niemals weiblichen – Diktatoren, die ihre Bevölkerung nicht in eine freiere, sicherere moderne Welt führen“, so Marozzis nüchternes Fazit. Vor 1000 Jahren schaute „das christliche Europa, militärisch, bevölkerungsmäßig und geistig unterlegen, … voller Neid, Furcht und Feindseligkeit nach Süden und Osten“. Inzwischen sind wir Europäer erstarkt und überheblich geworden, müssen uns indes eingestehen, dass wir heute einem „asiatischen Jahrhundert“ entgegengehen.

Justin Marozzi: Islamische Imperien. Die Geschichte einer Zivilisation in fünfzehn Städten. Insel Verlag, 587 S., geb., 28 €.

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