Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Jonny Thomson: Mini Philosophy

Das Gute und das Böse, der Tod und die Unendlichkeit

Irmtraud Gutschke

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob es eine Simplifizierung sei von etwas Großem, das unsere Nachdenklichkeit fordert, statt uns mit kleinen Häppchen angenehm zu unterhalten. Aber das hieße, dieses Buch zu unterschätzen, das in diesem Großen, dieser Nachdenklichkeit seine Wurzeln hat. Jonny Thomson, Jahrgang 1984, unterrichtet Philosophie in Oxford, konnte in der Konzeption dieses Buches auf ein so umfassendes Wissen aufbauen, um das ihn die meisten Leser beneiden würden. Er wendet sich an Leserinnen und Leser, die nicht Philosophie studiert haben, sich aber für dieses Thema interessieren. „Meine Hoffnung ist, die Philosophie aus ihrem unnahbaren Elfenbeinturm zurück ins Wohnzimmer zu bringen, ins Café oder in den Zug zur Arbeit.“

Nun ist dies nicht die erste Publikation, die diesem löblichen Ziel folgt. Meist handelt es sich um Sachbücher für Kinder, die durchaus mit Blick auf die Interessen erwachsener Leser auf den Markt kommen. Knapp und präzise, häufig auch mit Illustrationen wird die Geschichte der Philosophie abgehandelt. Es ist der große Vorzug des vorliegenden Bandes, das eben dies nicht geschieht. Zwar beginnt der Text mit Platon um 375 v.Chr., springt dann aber schnell Jeremy Bentham im 18. Jahrhundert und dann wieder zurück zu Aristoteles, vorwärts zu Immanuel Kant und dann zu der Schriftstellerin Ayn Rand, die Anfang des 20. Jahrhunderts in die USA emigrierte. Es ist ein Zickzack, der auf Chronologie keine Rücksicht nimmt, der die großen Denker der Vergangenheit sozusagen in eine künstliche Gleichzeitigkeit zwingt, denn auch ihre Lebensumstände und historischen Hintergründe werden weggelassen. Nun, solches kann man auch anderswo finden. Und das zunächst Irritierende erweist sich als Vorzug.

Denn, um allein schon bei der Ethik zu bleiben, ist uns doch all das, was große Denker der Vergangenheit dazu zu Papier brachten, als eine Liste von Fragen gegenwärtig, auf die wir uns Antworten wünschen, aber eben bei der Lektüre feststellen, dass es da viel mehr Aspekte gibt, als uns bewusst gewesen ist. Dass viele kluge Leute darüber schon nachgedacht haben, ist Selbstverständlichkeit oder Aha-Effekt. Und dass wir bei der Lektüre klüger werden, ist von der Seite an ausgemacht.

Großen Genuss wird man daran haben, das Buch Stück für Stück von der ersten Seite an zu lesen, weil Thomson ebenso kundig wie unterhaltsam formuliert. Dabei bietet ein Register am Schluss auch die Möglichkeit, gezielt nach Themen und nach Philosophinnen und Philosophen nachzuschlagen. (Ein bisschen schludrig ist das Register, was Marx betrifft, dafür hat er im Band sogar drei Kapitel.) Spitzfindige Leute können monieren, dass diese oder jener fehlt, was vielleicht berechtigt wäre bei 1500 Seiten. Doch dieses Buch kann man tatsächlich im Zug zur Arbeit mit sich führen und in Abschnitten lesen, durchaus einkalkulierend, dass die hier aufgezeigten Wege durch einen riesigen Gedankenpalast gepunkteten Linien gleichen. Das Gute und das Böse, der Tod und die Unendlichkeit, Langeweile und Macht, Feminismus und Revolte, Gott und die Technik, die Kindheit und die Bäume, Roboter und außerirdisches Leben – was alles hier zusammengebracht wird, ist bewundernswert. Wie schwierig das gewesen sein muss für den Autor, uns in solch eine Komplexität hineinzuführen und immer wieder zu überlegen, was weggelassen werden kann oder nicht. Er hat tatsächlich die schlauesten Köpfe der letzten 2500 Jahre zu uns herangeführt, sodass sie sich mit uns und untereinander unterhalten, einander zustimmen und widersprechen, weil Philosophie nicht anders als vieldimensional und dialogisch gedacht werden kann.

Jonny Thomson: Mini Philosophy. Das kleine Buch der großen Ideen. Aus dem Englischen von Peter Klöss. Diogenes Verlag, 316 S., geb., 20 €.   

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