Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Stefan Seidel: Grenzgänge

Podcast: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1172397.literatur-grenzgaenge.html

Vertrauen aus dem Raum des Unvertrauten

Erhellend und erhebend: „Grenzgänge. Gespräche über das Gottsuchen“ von Stefan Seidel

Irmtraud Gutschke

„Das Religiöse – das war einmal, das betraf frühere Generationen, eine versunkene Welt“ – eine Feststellung, die viele betrifft. Doch haben versunkene Welten nicht auch ihre Faszination? Mehr noch: Was da in die Tiefe gesunken scheint, befindet sich doch eigentlich im Fundament, das uns trägt. „Gottsuchen“ – wo und wozu? Stefan Seidel ist ein Buch gelungen, das sich an kirchlich orientierte Menschen ebenso richtet wie an solche mit anderem Hintergrund, an Ältere wie an Jüngere. Inspirierende Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite. Mitreißend, weil sich der Autor in seinem Text nicht versteckt, was auch jene, mit denen er im Gespräch ist, ganz offen werden lässt. „Gewissermaßen sitzen wir in diesem Buch beieinander an dem uralten Lagerfeuer und erzählen die Geschichten aus unserem Leben, auf die sich ohne ‚Gott‘ kein Reim zu machen wäre“, heißt es in Seidels Einleitung. Erhebend liest sich dieser Text allein schon wegen seiner so reichen Sprache. Poetisch und präzise, wird sie uns eindringlich, ermutigt zu eigenen Wegen in die Tiefe, Weite, Höhe, für die wir ja auch selber Worte finden müssen.

Brauchen wir Worte dafür? Das Staunen kann auch wortlos sein. Aus dem Wunsch nach Behütetsein entsteht ein Gefühl, das wohl auch mit einem Urvertrauen zusammenhängen kann, das sich in der Kindheit herausbildete oder auch nicht. „Dass der Weg mich kennt“ – wie schön hat die aus Dalmatien stammende Schriftstellerin Marica Bodrožić das ausgedrückt. Ein Kunststück mag allein schon gewesen sein, für die zwanzig Gespräche die passenden Partnerinnen und Partner zu finden – weit über Deutschland hinaus bis über den Atlantik. „Für die indigenen Völker war das, was uns im ‚Großen Ganzen‘ begegnet, der ‚Große Geist‘ – dies ist auch heute noch ein zugänglicher, begreiflicher Name“, so die Psychoanalytikerin Ingrid Riedel, die in einem sehr tiefgründigen Gespräch den Bogen spannt von ihrer Suchbewegung in der Kirchengeschichte während des Theologiestudiums bis zu ihrer therapeutischen Erfahrung, dass vielen Menschen heute „der Lebenssinn gründlich abhandengekommen“ ist. Dass ein religiöses Grundbedürfnis im Menschen lebt, ist sie sich sicher. Wie Carl Gustav Jung sieht sie „Ehrfurcht, Ergriffenheit“ in Zusammenhang mit  ethischer Verantwortung. Da lässt sich ein Widerhall erkennen in der „öko-feministische“ Theologie“ bei Tara Hyun Kyung Chung, in Korea geboren, und aus Mexiko stammenden und in Costa Rica lebenden Elsa Tamez, die im gekreuzigten Jesus Christus „eine große Solidarität“ empfindet „mit den Menschen, die Verfolgung und Unterdrückung erleiden“. Über Religions- und Konfessionsgrenzen hinweg sollten wir einander zuhören, „um die gegenwärtige Wirklichkeit einer ungerechten Welt zu verändern, in der Wenige den Wohlstand und die Macht horten“.

Lebenswege: Der österreichisch-amerikanische Benediktinermönch David Steindl-Rast nennt Karl Rahner seinen wichtigsten christlichen Lehrer, hat aber auch durch den ZEN-Buddhismus Anstöße bekommen, um im vollsten Sinne „katholisch“ zu werden. Er hat ein Internetnetzwerk „dankbar-leben.org“ gegründet. Auch wenn man für vieles „nicht dankbar sein kann“, wird einem doch die Gelegenheit geschenkt, „die ungute Lage zu verbessern“. Der Theologe Jürgen Moltmann wurde zum Gottsucher, als Hamburg bombardiert wurde und er am Leben geblieben war. Für die US-Amerikanerin Deanna A. Thompson war der Auslöser eine Brustkrebserkrankung im 4. Stadium. Für den Schweizer Theologen Pierre Strutz war es ein Burnout. Er ist überzeugt, „dass keinem Menschen Gott beigebracht werden muss, weil er /sie längst schon als innerste Quelle in jeder und jedem von uns wesentlich lebt und fließt“.

Zu jedem Gespräch gibt es eine ausführliche Einleitung, die den Namen Essay wohl verdient. So wie Stefan Seidel fragt, weiß er über sein jeweiliges Gegenüber schon sehr viel. Und will doch auch für sich selbst etwas wissen – über Gott, Religion, die Vorstellungen vom Tod. „Glauben ist Gnade“, sagt die 1977 im rumänischen Banat geborene Schriftstellerin Iris Wolff. „Gott geschieht“, meint die Norwegerin Hanne Ǿrstavik, von der jüngst der Roman „Ti amo“ über das Sterben eines geliebten Menschen erschien. „Der Tod hat nicht das letzte Wort“, betont die Schriftstellerin Helga Schubert. So wie Menschen, die mich liebten und schon tot sind, um mich sind, so werde ich auch in den Gedanken der Menschen sein,  die ich liebe, wenn ich tot bin.“

Der Lyriker Carl-Christian Elze, 1974 in Leipzig geboren, hatte nach dem plötzlichen Tod des Vaters ein Erlebnis, das wie „ein Geschenk“ für ihn war. Wie er sich im Wald auf den Boden hockte in Beobachtung einer Ameisenstraße, war es ihm, als ob er „plötzlich, sekundenhaft ein klares Signal empfing, dass mir nichts passieren kann und dass ich mit allen Dingen verbunden bin, dass ich, auch wenn ich sterbe, nicht aus diesem System herausfallen kann, und dass ich glücklich sein soll, Bestandteil dieses perfekten Systems zu sein.“

Um eine „achtsame Einstellung und Haltung zum Unbewussten“ geht es auch dem Amerikaner Patrick Roth, Autor dreier vielbeachteter Jesus-Romane. Die Schriftstellerin Ingeborg Arlt lernte früh zu unterscheiden „zwischen christlicher Lehre und kirchlicher Lehre“.  Was man als Herausforderung auch bei der Lektüre dieses Buches verstehen kann. Worin sich wohl alle einig sind: dass „Gott“ kein „alter Mann mit weißem Bart“ sein kann, wie die Schriftstellerin Daniela Krien es ausdrückt. „Gott ist in allen Dingen. Er ist in allen Dingen als Tiefe“,  so der tschechische Theologe Tomáš Halík. Für den norwegischen Jazz-Pianisten Tord Gustavsen ist Musik wie Religion ein „In-Schwingung-Sein“, ein „Getragensein“. Als „Nabelschnur, die uns mit dem Göttlichen verbindet“, empfindet der schwedische Dirigent Herbert Blomstedt sie Musik.

Kunst als Brücke zu einem „Resonanzphänomen, dem man sich begründend oder argumentativ bestenfalls annähern kann“ – der Lyriker Christian Lehnert, der als Theologe an der Universität Leipzig lehrt, antwortet auf die Frage nach Gott mit zwei Gedichtzeilen, die in kein Schema passen: „Der Gott, den es nicht gibt, in mir ein dunkler Riß/ ist meiner Seele nah, sooft ich ihn vermiß.“ Lehnert ist nicht mit Gebeten aufgewachsen wie andere. „Was Kirche war, lag fern, verstaubt und verwickelt in die Begriffe  einer altertümlich beherrschten Welt.“ Und doch hat er an einem herbstlichen Spätnachmittag „in der frühen Dunkelheit bei dem mir ganz fremden Ortspfarrer“ geklingelt und gefragt, ob er konfirmiert werden könne. Wie er sich seitdem auch ins Studium der Bibel vertiefte, ist Glaube für ihn „ein großes Abenteuer und Wagnis“ geblieben. „Christentum ist kein System von Aussagen. Es geht nicht darum, was man sagen kann, sondern darum, was sich in der Sprache vollzieht, welche Kraft in ihr entsteht. Es geht darum, ein Spannungsfeld von Sprache zu schaffen, das eine Beziehung zu Gott ermöglicht.“ Als Stefan Seidel ihn nach dem Einfluss der Mystik fragt, spricht Christian Lehnert von einer „der wichtigsten theologischen Strömungen für die Gegenwart, denn sie kann etwas aufnehmen, was den modernen Menschen prägt: eine starke Subjektivität beim gleichzeitigen Zweifel an der eigenen Subjektivität.“

„Grenzgänge“ in Zeiten, da „Verständigung über Religiöses“ schon „einer Art Tabu anheimgefallen“ scheint: Eingedenk der schwindenden Mitgliederzahlen in den beiden großen Konfessionen ist dieses Buch geschrieben worden. Es richtet sich wohl an Gläubige und ist zugleich ein Brückenschlag zu den Vielen, die sich für Atheisten halten und doch unbewusst „nach dem Transzendenten“ tasten. Wie sie in sich nur „undeutlich wie in einem halb blinden Spiegel“ die „uralte Sehnsucht des Menschen nach Rückgebundenheit (religio), nach einem Bezogensein auf etwas Größeres“ erkennen, was würde ihnen geschenkt, wenn sie diese Sehnsucht leben könnten! „Vertrauen aus dem Raum des Unvertrauten“, wie Stefan Seidel es nennt, was für eine Verheißung!

Stefan Seidel: Grenzgänge. Gespräche über das Gottsuchen. Claudius Verlag, 295 S., br., 26 €.  

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