Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Kleines Erste-Hilfe-Büchlein gegen Propaganda

„Schauen Sie der Wahrheit tapfer ins Auge“

Irmtraud Gutschke

Messerscharfe Beobachtungen bescheinigt der Westend Verlag der australischen Journalistin Caitlin Johnstone. Hinzufügen könnte man noch Begriffe wie sarkastisch, ironisch, ja sogar einfach humorvoll. Was den Zustand den unserer „verrückten Welt“ betrifft, sind die Aussagen im Buch ja fast an Schärfe nicht zu übertreffen und könnten niederdrückend wirken. Aber der Autorin gelingt ein Kunststück: Schreibfreudig, wie sie offenbar ist, fügt sie gern eine Prise Humor hinzu. Wodurch sie eine Überlegenheit signalisiert, die man tatsächlich erwerben sollte, um gegenüber Propaganda immun zu werden.

Diesbezüglich empört zu sein, ist legitim. Denn zwischen dem lauthals geäußerten Anspruch einer freien, demokratischen Öffentlichkeit und der Realität gibt es eine Kluft, in die hineinzustürzen zu Recht viele Menschen beklagen, sich belogen, ausgeliefert, ohnmächtig fühlen und dennoch irgendwie versuchen, an das proklamierte Selbstbild der kapitalistischen Gesellschaft zu glauben, um „drin“ und nicht „draußen“ zu sein. Insofern begibt sich Caitlin Johnstone mutig in eine unbequeme, möglicherweise gar gefährliche Position, weil sie enthüllt, was Propagandafirmen aufwendig produziert haben. Ja, solche Firmen gibt es. Die Nachrichtensprecher im Fernsehen denken sich doch die Meldungen nicht selber aus. Bis hin zur Reihenfolge ist alles bedacht und unter Kontrolle. Damit auch wir unter Kontrolle sind. Und weil ich das schon einmal in der „Aktuellen Kamera“ erlebt habe, kann ich mir die „Tagesschau“ ohne Aufregung anschauen oder besser ohne Aufregung darauf verzichten. Was ich mir schon lange in einem linken Medium wünsche, wäre eine tägliche ideologiekritische Analyse der Abendnachrichten, die am konkreten Material die Rezepturen enthüllt, nach denen sie zusammengerührt worden sind.

Caitlin Johnstone macht das auf ihre Weise im Internet. Die einzelnen Kapitel des Buches stehen jeweils unter einem Datum. Es sind Reaktionen auf konkrete Ereignisse und Meldungen, polemisch und mit einer Fülle an Fakten über außenpolitische „Denkfabriken“, die „häufig nichts anderes“ sind „als Einflussoperationen für den militärisch-Industriellen Komplex“. Der agiert global und hat sein Zentrum natürlich in den USA. Die Schärfe, mit der die Autorin das zentralisierte westliche Imperium angreift, ist frei jeder Vorsicht. In den USA sieht sie einen „Aggressor“. „Sie waren der Aggressor, als sie die NATO erweiterten und begannen, die Ukraine de facto zu einem NATO-Mitglied zu machen, und sie sind der Aggressor, wenn sie ihre Einkreisung Chinas beschleunigen und sich darauf vorbereiten, die Schleusen für Waffen nach Taiwan zu öffnen … Das US-Imperium gefährdet uns alle mit seinem letzten verzweifelten Versuch, die unipolare planetarische Hegemonie zu sichern, bevor die Multipolarität die Oberhand gewinnt, in dem es an den Grenzend er nuklear bewaffneten Nationen, die seine Macht herausfordern, wahnwitzige aggressive Aktionen durchführt.“

Kurze, pointierte Texte mit holzschnittartigen Diagnosen. Die mögen vielen aus dem Herzen sprechen, die nach Gegenmeinungen zum Mainstream gieren. Wie dieser Mainstream entsteht, wird hier auf eine überzeugende Weise dargestellt. „Journalisten lernen das Gruppendenken der Etablierte, ohne dass es ihnen gesagt werden muss“, andernfalls kommen sie gar nicht erst zum Zuge oder werden hinausgedrängt. Dafür gibt s im Buch viele Beispiele, und es wundert nicht, dass „85 Prozent der Denkfabriken, die von Nachrichtenmedien in ihrer Berichterstattung über die militärische Unterstützung der USA für die Ukraine zitierte werden, buchstäblich von Auftraggebern des Pentagons bezahlt wurden.“

In diesem Bereich gibt es ja respektable Namen. Der hier genannte CRF, „Rat für auswärtige Beziehungen“, hat Pendants auch in anderen Ländern. Dass es auch verdeckte Infiltrationen durch Geheimdienste gibt und dass ebenso die Werbung eine Rolle spielt, erstaunt eigentlich nicht. Dass Kräfte, die sich „liberal“ nennen, in Wirklichkeit nicht genehme Meinungsäußerungen einschränken, ist leider etwas , das zu jedem Machtsystem gehört. Was heute indes zur Blüte getrieben wird, ist die „Ablenkung“, um öffentliche Aufmerksamkeit zu manipulieren: „dass die Menschen sich auf Innenpolitik konzentrieren, damit sie den ausländischen Interventionen ihrer Regierung keine Aufmerksamkeit schenken, oder dass sie sich auf Kulturkämpfe konzentrieren, damit sie keine Klassenkämpfe planen“.

„Die USA könnten eine Trennung von Medien und Staat gebrauchen“, sagt Caitlin Johnstone. Abr das wird nicht sein, zumal nicht in Krisenzeiten des Systems. „Ideologische Echokammern machen uns alle dumm.“ Stimmt. Dagegen hilft der nüchterne Gebrauch des Ideologiebegriffs. Machtinstrument der herrschenden Klasse, das auch durchschaut werden kann. Da kann ich Caitlin Johnstone nur dankbar sein, wie sie die moderne Mainstream-Kultur als Teil des Systems entlarvt.

Wer übrigens ihren Namen jetzt bei Google eingibt, findet schon neue Wortmeldungen. Hintergrund des Buches ist der Ukraine-Krieg. Aber auch zum Nachost-Konflikt hat sie Vernünftiges zu sagen.

Die witzigen Rezepte gegen Mutlosigkeit und Depression, die sie ihren Texten hinzufügt, mag sie auch selbst bei sich angewandt haben:

„Wir empfehlen: Kalte Kneip’sche Armgüsse vertreiben Müdigkeit und machen schlagartig frisch …“

„Nehmen Sie ein heißes Bad, entspannen Sie und schauen der Wahrheit tapfer ins Auge.“

Caitlin Johnstone: Kleines Erste-Hilfe-Büchlein gegen Propaganda. Wie wir unseren Verstand in einer verrückten Welt bewahren können. Mit einem Vorwort von Rainer Mausfeld. Aus dem Englischen von Yuki Tochigi. Westend Verlag, 144 S., br., 16 €.

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