Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Mia Couto: Der Kartograf des Vergessens

„Vergangenheit, die nie verheilt ist“

Sprachmächtig und spannend: „Der Kartograf des Vergessens“ von Mia Couto

Irmtraud Gutschke

Der Romantitel kommt im Text selber vor. Eine junge Frau namens Liana – natürlich ist sie bezaubernd – hat ihr Manuskript so genannt. Sie hat sich in den Dichters Diogo Santiago verliebt, der in seiner einstigen Heimatstadt Beira den Spuren seines Vaters folgt, der auch Dichter war. Von verschiedener Seite wird Adriano Santiago „Träumer“ genannt. Doch wachen Auges hat er gesehen, was die Kolonialmacht Portugal in Mosambik anrichtete. Wer weiß heute noch davon? Darum geht es im Roman: die Vergangenheit vor dem Vergessen zu retten. Denn sie hinterließ Wunden, die nie verheilt sind.

Dazu hat sich Mia Couto, der als Sohn portugiesischer Einwanderer in Beira geboren wurde und weiterhin in Mosambik lebt, eine interessante Romankonstruktion ausgedacht, die sich auf zwei Zeitebenen bewegt. Kapitelweise folgen wir im Frühjahr 2019 den Recherchen Diogos, die bald schon von Liana begleitet werden, und Dokumenten der portugiesischen Geheimpolizei aus dem Jahre 1973. Die wurden Liana von ihrem Großvater hinterlassen, der Inspektor bei der PIDE war. Da findet Diogo nicht nur diverse Spitzelberichte und Aufzeichnungen seines Vaters, sondern ebenso eigene Tagebucheintragungen von damals. Er folgt also in gewisser Weise auch seinem eigenen Leben.

„In diesen Tagen bewege ich mich in den Orten meiner Kindheit wie durch einen Sumpf – äußerst behutsam. Ein falscher Schritt, und ich riskiere, in dunklen Abgründen zu versinken.“ – Abgründen, die überall lauern, in allen Biografien, denen wir begegnen. Jede, jeder trägt eine Frage, eine Rätsel mit sich herum. „Es ist ungerecht, eine Vergangenheit zu erben“, sagt Liana. „Als würde uns die Zeit an den Füßen festgebunden. Wie oft habe ich daran gedacht, diese Papiere zu verbrennen.“ Aber in einem Waisenhaus in Portugal geboren, würde auch sie gern mehr über ihre Herkunft erfahren …

Was für ein Labyrinth von Schicksalen sich da öffnet, die alle irgendwie  verbunden sind! Wie viele Geheimnisse wollen enthüllt werden! Was wurde aus Diogos Halbbruder Sandro? Dessen Herkunft wurde in der Familie verschwiegen, wie so vieles übrigens. Wie viele Lügengebäude sind da aufgerichtet worden. Eine schöne junge Frau, Amalinda, wurde sterbend in einem Fluss gefunden und konnte gerettet werden. Später aber stürzt sie aus dem Fenster eines Hochhauses. Und der Mann, der sie fand, war kurz drauf selber tot …

Sprachmächtig und überaus spannend ist es, wie Mia Couto schreibt. Mitunter wurde er ja als Meister des magischen Realismus gerühmt. An Gabriel García Márquez denkt man angesichts der toten Vögel auf den Wegen. Ein Zyklon kündigt sich an und tobt mit geradezu übernatürlicher Kraft. Aber die meiste Zeit wollen wir doch auf dem Boden der Tatsachen bleiben, wo sich nach und nach vor unseren Augen ein Puzzle zusammensetzt. Wobei man nicht alles glauben kann, was die Leute berichten, besonders wenn sie es der Geheimpolizei gegenüber tun. Gerade die Frauen erweisen sich als äußerst listig, ebenso wie die katholischen Missionare, die einerseits mit den Behörden zusammenarbeiten, dabei aber ihrem Gewissen folgen wollen. Kaum etwas ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. Und dennoch gibt es klare Fronten.

1973 hat Diogos Vater im Ort Inhaminga die Folgen eines Massakers gesehen, verübt von der portugiesischen Armee an der einheimischen Bevölkerung, um die FRELIMO, die marxistisch orientierte Befreiungsbewegung, zu treffen. „Wir handelten unter der Annahme, dass alle, die noch keine Terroristen waren, es in naher Zukunft werden würden“, hat Lianas Großvater damals an den Direktor der PIDE geschrieben. Unter dem Nachfolger des portugiesischen Diktators Salazar wurde die PIDE als DGS dem Innenminister unterstellt, behielt aber ihr Personal, ihr Spitzelnetz und ihre Methoden. Viele Leser des Buches, ob in Mosambik, Portugal oder anderswo, dürften das nicht gewusst haben. Wie soll es überhaupt gelingen, die Folgen der Kolonialisierung abzuschütteln? Es steht nicht im Buch, aber man denkt daran, dass die FRELIMO wohl einen Bezug zur Sowjetunion hatte und das Land nach der Unabhängigkeit 1975 auch deshalb nicht zur Ruhe kam, weil dieser Einfluss zurückgedrängt werden sollte. 16 Jahre Bürgerkrieg ab 1976 sind mitgedacht.

Aber dies ist kein politischer Essay. „Ich beneide dich, Diogo … Ein Schriftsteller, denke ich, ist jemand, der das Leben anderer lebt.“ Das sagt Benedito, früher Hausjunge in der Familie Santiago, jetzt ein selbstgefälliger Parteifunktionär. Immerhin wurde erreicht, dass die schwarze Bevölkerung Rechte bekam, die sie unter der Kolonialherrschaft nicht hatte. Hiesige Leser mag schockieren, wie oft das Wort „Neger“ im Roman vorkommt, einfach, weil die weißen Portugiesen sie so nennen. „Manche Leute behaupten, sie sähen keine Rasse, sie sähen nur Menschen“, hat die Großmutter 1973 in einem Brief an Diogo geschrieben. „Aber in der Welt von heute, mein lieber Enkel, kann für Rassen blind sein auch bedeuten, dass man Rassismus nicht sieht. Ich möchte, dass du aufmerksam durch die Welt gehst …“

Liebe, Schuld, Vergebung, Mut, Ängste – was immer Menschen bewegen kann, findet sich in diesem Buch, das unter einem Motto von Jorge Luis Borges der jüngeren Geschichte Mosambiks folgt, zugleich aber darüber hinausblicken will: „Ist das Licht, das dort verglimmt, ein Imperium oder ein Glühwürmchen?“ Mia Couto hat den Roman seinem Vater gewidmet. „Dieser gute, arglose Mann“ hatte wie Adriano Santiago Beweise für jenes Massaker 1973 bekommen. „Zum damaligen Zeitpunkt hatte der Befreiungskrieg die Tore unserer Stadt Beira erreicht. In manchen weißen Vierteln verfielen die Menschen dem Wahnsinn. Damals wurde mir klar, dass Krankheit mitunter das einzige Heilmittel ist. Manche mussten vergessen können, was geschah, um Zukunft zu ermöglichen.“ Und dennoch ist dieser Roman gegen das Vergessen gerichtet.

Mia Couto: Der Kartograf des Vergessens. Roman. A. d. Portug.  v. Karin von Schweder-Schreiner. Unionsverlag, 295 S., geb., 24 €.  

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