Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Anthony Horowitz: Der Tote aus Zimmer 12

Podcast auf dasnd.de/buecherberge

Was für ein großartiges Rätselspiel

„Der Tote aus Zimmer 12“ ein neuer Krimi von Anthony Horowitz

Irmtraud Gutschke

Eigentlich ist ein Mord doch etwas Schlimmes, etwas Furchtbares, etwas, das wir lieber nicht mitansehen wollten. Hat es da nicht eigentlich etwas Perverses, dass wir in Krimis daran so große Freude haben?

Im Roman von Anthony Horowitz „Der Tote aus Zimmer 12“ regt sich ein Polizeibeamter, genauer gesagt ein „Detective Chief Superintendent“ (der Roman handelt ja in England) darüber auf: Derlei Romane hätten „überhaupt nichts mit dem wirklichen Leben zu tun. Es gibt keine Privatdetektive, außer solchen, die hinter schlecht erzogenen Teenagern her spionieren oder ihnen erzählen können, wen ihr Ehemann gerade vögelt. Morde finden auch nur selten in einem strohgedeckten Cottage oder prunkvollen Schlössern statt.“ Da trifft sich Herr Locke, lassen wir mal den langen Titel weg, einvernehmlich mit einem renommierten deutschen Literaturkritiker, der auch Mitglied der Jury für den Deutschen Krimipreis ist. In einer bekannten Wochenzeitung setzt er sich mit sogenannten „Retro-Krimis“ auseinander, wie sie derzeit in vielen Verlagen auf den Markt kommen. „Sie feiern die idyllische englische Provinz mit ihren Konflikten, mit ihrem schrulligen Personal (das lediglich in eine Art Zeitmaschine gesetzt wurde), den entsprechenden ideologischen Implikationen und Werten, und vor allem mit den entsprechenden ästhetischen Strategien. So, als ob die Moderne, geschweige denn die Postmoderne nicht stattgefunden hätten.“

Nun habe ich wegen der Moderne und Postmoderne kein schlechtes Gewissen, wenn ich mich von  Anthony Horowitz‘ Büchern gut unterhalten fühle. Wobei es durchaus stimmt: Die Widersprüche, die die heutige britische Gesellschaft und überhaupt die Welt zerreißen, werden von ihm nicht vordergründig thematisiert. Sie verschwinden hinter einem Wohlleben, das durch ein Verbrechen lediglich unterbrochen wird. Weil er immer schon in begüterter Abgehobenheit lebte, könnte man sagen. Aber ganz so einfach ist es wohl nicht. Tatsächlich bekennt Horowitz auf seiner Homepage, dass schreckliche Kindheitserlebnisse eine Quelle für sein literarisches Schaffen waren. Im Internat, in das man ihn steckte, schlug der Rektor die Jungen, bis sie bluteten, und bezeichnete sie vor der versammelten Schülerschaft als dumm. Da habe er Geschichten erfunden, die von Rache und Vergeltung handelten, und entschieden, Schriftsteller zu werden.

Dass er seit seiner Jugend ein Sherlock-Holmes-Fan war – er hat nach dem Muster von Arthur Conan Doyle sogar selbst drei Sherlock-Holmes-Romane verfasst – kam hinzu und hat wohl tatsächlich zu seinem immensen literarischen Erfolg beigetragen. An die 40 Bücher, die in 30 Ländern erschienen, Hörbücher, Drehbücher für Film und Fernsehen (auch einige Folgen von „Inspector Barnaby“ stammen von ihm), beweisen die Publikumswirksamkeit seines Erzählkonzepts.

Aber nun zu diesem Roman: Tut es meinen linken Idealen und Werten denn Abbruch, wenn ich mich in Gedanken mal in ein vornehmes Hotel in der britischen Grafschaft Suffolk versetzen lasse? Ein ehemaliges Schloss in einem gepflegten Garten, einen Aufenthalt dort würde ich nicht bezahlen können. Mehrere Seiten gönnt sich der Autor, um das Ambiente zu beschreiben. Gotische Türme und Zinnen, „Marmorköpfe englischer Lords und Ladies“ und über dem Eingang eine schöne steinerne Eule, die übrigens auch den Buchumschlag ziert. „Eine niedrige Mauer und ein flacher Graben liefen um das ganze Gebäude herum, was ihm die Aura gelassener Unerschütterlichkeit gab – so als ob es sich von der realen Welt abzusondern beliebte.“ Nur ein Halbsatz, der deutlich macht: Der Vorwurf des Eskapismus ist dem Autor wohl bewusst ebenso wie der Wunsch vieler Leser, mal eine gedankliche Ruhepause zu finden in dieser hektischen Welt.

Eine Erholungspause, indem wird von einem Mord in Zimmer 12 dieses Hotels erfahren? Den Mann mit dem zertrümmerten Kopf möchten wir nicht sehen und er wird uns auch nicht aufdringlich vor Augen geführt. Außerdem liegt das Verbrechen schon viele Jahre zurück. Es gab einen Verdächtigen, der verurteilt wurde. Nun aber ist Cecily verschwunden, die Tochter von Lawrence und Pauline Treherne, die das Hotel besitzen und es sich leisten können, der Verlagslektorin Susan Ryeland 10 000 Pfund für die Aufklärung der Rätsel anzubieten. Die ist allerdings auch schon im Ruhestand. Mit ihrem Lebensgefährten Andreas betreibt sie auf Kreta ein kleines Hotel, das so ganz anders ist als Branlow Hall. Sie sind in Geldnöten. Also nimmt sie den Auftrag an.

Eine Verlagslektorin als Detektiv? Schon im Roman „Die Morde von Pye Hall“, 2018 ebenfalls im Insel Verlag erschienen, lernte ich Susan Ryeland kennen. Auch darin hatte sie einen Mord aufzuklären. Denn sie konnte nicht glauben, dass sich der Erfolgsschriftsteller Alan Conway selbst vom Turm seines Landschlosses gestürzt haben soll, wie die Polizei behauptete. Und außerdem sollte sie im Auftrag ihres Verlags die letzten Seiten seines neuen Kriminalromans finden. Hatte der Mord mit seinem Text zu tun, mit den vielen Anspielungen und Parallelen, die darin versteckt waren?

Auch diesmal, so viel kann ich verraten, gibt es so eine literarische Parallele. Besagter Alan Conway war in Branlow House gewesen, kurz nach dem Mord an jenem Frank Parris (ihm gehörte eine Werbeagentur) in Zimmer 12. Inzwischen kann man ihn ja dazu nicht mehr befragen. Jahre später aber hat Cecily Conways Roman „Atticus unterwegs“ entdeckt. Aufgeregt rief sie nach der Lektüre ihre Eltern an. Sie wisse nun, wer Frank Parris umgebracht hat. Am nächsten Tag kam sie von einem Spaziergang nicht zurück.

Susan Ryeland beginnt also zu ermitteln, befragt das Personal, die Familie. Sie sucht die Umstände der Tat zu rekonstruieren und  findet heraus, dass es einige gab, die ein Interesse an dem Mord gehabt haben könnten, der damals ausgerechnet an Cecilys Hochzeitstag stattfand. Auch hatte Frank Parris das Zimmer getauscht. Hatte der Anschlag womöglich jemand anderem gegolten? Erst einmal kann Susan keine Parallelen zu Conways Roman  „Atticus unterwegs“ entdecken, den sie einst lektorierte. Auf den Seiten 221 bis 478 in diesem Buch ist die Detektivgeschichte um Atticus Pünd  sogar in Gänze abgedruckt. Ein Roman im Roman: Könnte man da nicht selbst herausfinden, was Cecily  entdeckte?

„Sie machen aus Verbrechen eine Art Spiel“, wirft Detective Chief Superintendent Locke Kriminalautoren vom Schlage eines Alan Conway vor und weitet seinen Vorwurf auch auf Susan Ryeland aus. „Eine Million Bücher mit kindischem Quatsch zu verbreiten, die Verbrechen verharmlosen und den Glauben an Recht und Ordnung untergraben.“ Sie hält dagegen: „Die Leute haben Spaß gehabt und wussten genau, was sie wollten. Sie waren nicht auf das wirkliche Leben aus, sondern wollten es mal für ein paar Stunden vergessen. Und das kann ich sehr gut verstehen. Vierundzwanzig Stunden am Tag gibt es Nachrichten. Echte und falsche. Die Politiker beschimpfen sich gegenseitig und nennen sich Lügner und Heuchler, obwohl jeder weiß, dass sie selbst Lügner und Heuchler sind. Vielleicht ist es da ganz tröstlich, wenn man ein Buch lesen kann, das einem die Welt erklärt…, das eine Moral hat und ein Stück Wahrheit behauptet.“

Was Herrn Locke aber vor allem ärgert, ist Susans Vermutung, dass er in Stefan Codrescu einen Unschuldigen verhaftet haben könnte. Denn einem Rumänen traut er alles zu. Dass es Arme gibt, denen ein Stück vom Wohlstand zustehen würde, und Reiche, die meinen, alles sei ihnen erlaubt, ist Susan ebenso wie dem Autor bewusst, im Einverständnis mit uns, die wir das Buch lesen. Unterschwellig findet sich vieles, was diesen Roman so gar nicht „Retro“ macht. Aber im ganzen bekommen wir, was wir uns gewünscht haben: ein großartiges Puzzle aus vielen Indizien, mehreren Verdächtigen und ihren möglichen Motiven. Das nämlich ist das erbauliche Rezept dieses Genres: Erschreckendes geschieht, wir tappen im Dunkeln, doch am Schluss klärt sich alles auf,  garantiert. „In einer Welt voller Unsicherheiten ist es sehr befriedigend, wenn auf der letzten Seite endlich alle Rätsel gelöst sind“, meinte Susan Ryeland schon im vorigen Roman „Die Morde von Pye Hall“. Auch wenn das in Bezug auf die Welt eine Illusion ist.

Und auch der Rat von Detektiv Hawthorne aus Horowitz‘ Roman „Mord in Highgate“ kommt mir in den Sinn: „Sie müssen das Muster finden.“ Wer hat wovon einen Nutzen? Angesichts von Untaten sich nicht für dumm verkaufen zu lassen, auch mit Krimilektüre, glaube ich, kann man das üben.

Anthony Horowitz: Der Tote aus Zimmer 12. Roman. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. Insel Verlag, 597 S., geb., 24 €.

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