Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

der die das Fremde

Reisen und Fluchten

Von Irmtraud Gutschke

Eine Zeichnung von Harald Kretzschmar zeigt einen Maler vor der Leinwand. Verblüfft und erschrocken sieht er die Spiegelung seines Gesichts. „Um Gotteswillen nicht verfremden“ – den Kommentar des Künstler möge jeder auf sich selbst beziehen. Denn das droht uns wohl in dieser Gesellschaft, auch wenn man nicht sozial an den Rand gedrängt ist. In gewisser Weise fremdbestimmt ist doch jeder. Von Kretzschmar gibt es einen geistig geschliffenen Aphorismus dazu, in dem sich auch das Ressentiment gegenüber Fremdenfreundlichkeit erklärt. Wohl wahr: „Je selbstständiger man in sich gefestigt ist, desto beweglicher geht man auf Fremdes zu.

Im Band „der die das Fremde“ gibt es mehrere Texte, in denen Bekanntschaft mit fremden Ländern als etwas Bereicherndes erlebt wird. Wobei einem beim Lesen klar ist: Eine lange Reise durch Indien, wie in Barbara Osseges „Auflösende Provinze/n“ beschrieben, muss man sich nicht nur leisten können, man muss auch innerlich bereit dazu sein durch eine kosmopolitische Orientierung, die man vorher schon hatte. Die gehört, wie uns die Soziologie erklärt, zu einem gebildeten urbanen Milieu, wo man auch Selbstbestätigung und Anerkennung erfährt, wenn man Fremdem gegenüber offen ist. Die Texte von Claudia Gehrke leben von solchen lange nachwirkenden Erlebnissen. „Die Erinnerung an eine fremdartige, von Zauber erfüllte Geschichte“ von Titus Spree führt auf geradezu wundersame Weise nach Kappadokien, wo ein Paar in der Begegnung mit Einheimischen einem Lebenssinn auf die Spur kommt, den man zu Hause vermisst. Leben als „Summe der Berührungen, die man in sich sammelt“. Klug gesagt. Die Fremde als Sehnsuchtsort verbindet die wohlhabenden Nordländer ja sogar mit den ärmeren Südländern, nur dass sie damit unterschiedliches meinen.

„Knapp vier Jahre lang hatte ich in Jordanien ohne Aufenthaltsgenehmigung überlebt. Aus Syrien hatte ich nur ein einziges Reisedokument mitgenommen, das seine Gültigkeit am Flughafen Amman mit dem Stempel ‚Rückkehr nicht gestattet‘ verlor“, schreibt Ahmad Katlesh in „Waldhütte und Altenheim“. Tatsächlich hat er in Deutschland Unterschlupf in einem Altenheim gefunden. Seltsamerweise findet sich sein Name nicht im Register. Die Geschichte des 13-jährigen Ahmed aus Afghanistan hat Robert Becker aufgeschrieben. Mittlerweile ist Ahmed 18, die Angst zurückzumüssen ist geblieben.

Diese existenzielle Not – viele verdrängen sie aus ihrem Bewusstsein mit der Begründung, dass unser Land doch nicht alle Notleidenden der Welt aufnehmen könne. Es ist nicht einfach Fremdenangst oder Fremdenhass, die in diesem Band ebenfalls zur Sprache kommen, es ist schlichtweg die Sorge um den eigenen Lebensstandard, so hoch oder niedrig er auch sei. Die sich da meinen, verteidigen zu müssen, instinktiv wissen sie, dass die kleinen Leute für alles in die Pflicht genommen werden und nicht die Superreichen „da oben“.

Und jene Migranten (ist das Wort überhaupt noch politisch korrekt), denen es gelungen ist, sich irgendwie in Deutschland zu etablieren, befinden sich umso mehr in einer Konkurrenzsituation. Schon nach der Herkunft gefragt zu werden, wirkt wie eine versteckte Beleidigung, wie aus Nawel Bendaghas kurzer Erzählung deutlich wird, die dem Band den Titel gab. Gleichwertig sein mit den anderen, dafür will sich im Text von Matthias Rische ein kleiner Junge sogar die braune Haut abschneiden.

Mehrere Texte behandeln die schwierige Situation von Frauen in migrantischen Familien (Heidi Ramlow, Ewa Boura). In anderen geht es um die feinen Unterscheidungen auch im deutschen Milieu, das innere, verborgene Befremden, die Angst, sich selber fremd zu werden. In Beiträgen von rund 60 Autoren werden auf packend-nachdenkliche Weise alle Facetten dessen ausgelotet, die der Titel vorgibt. Da kann man der Herausgeberin Sigrun Casper nur Bewunderung zollen.

Sigrun Casper (Hg.): der die das Fremde. Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke,
333 S. m. zahlr. Abb., br., 16,80 €.

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